Das Tattoo
nachsehen. Es war ein seltsamer Name, daran erinnere ich mich noch.” Sie drehte sich um und öffnete eine Hängeregisterschublade. „Moment. Ich glaube, in dem Jahr, in dem er achtzehn wurde, hatten wir das Feuer in der Turnhalle. Wir hatten den Verdacht, dass er es gelegt haben” könnte, wissen Sie.”
Frankie riss erschrocken die Augen auf. „War er wirklich so schlimm? Damals schon?”
„Nun, ich fürchte ja, Liebes.”
„Aber warum habe ich ihn denn bloß gemocht?” Frankie schüttelte verständnislos den Kopf.
Addie zuckte die Schultern, während sie weiter ihre Hängere gistratur durchforstete.
„Nun, er war nicht unfreundlich zu dir, ganz im Gegenteil. Außerdem, wer weiß schon, was im Kopf eines Kindes vor sich geht? Als du ihm zum ersten Mal begegnetest, hattest du eben erst deine Eltern verloren und warst an einem Ort, der dir fremd und Furcht einflößend vorgekommen sein muss. Diese erste Begegnung kann ein prägender Moment gewesen sein.”
Frankie schmiegte sich an Clay.
Einige Minuten verstrichen, in denen Addie Bell ihre Suche
fortsetzte. Schließlich trat sie mit einem Schnellhefter in der Hand einen Schritt zurück.
„So. Da ist er.”
„Sein Name … wie ist sein Name?” drängte Clay.
Addie schaute auf. „So ein seltsamer Name für so ein seltsames Kind. Hier ist ein Foto von ihm. Dunkle Haut, schwarzes lo ckiges Haar. Wir wussten nicht, woher er kam, aber wir nahmen an, dass zumindest ein Elternteil aus dem mittleren Osten stammte. Und der Name - Pharaoh - klingt ägyptisch, aber wer weiß?”
Als Frankie einen Blick auf das Foto warf, wurde sie von ei ner Welle der Panik überschwemmt, die sie ganz atemlos machte. Sie wollte Luft holen und hörte sich stattdessen aufstöhnen. Das Zimmer begann sich zu drehen. Sie streckte die Hand nach Clay aus, doch sie griff ins Leere.
Aus der Ferne hörte sie, wie Clay ihren Namen rief, aber sie war zu weit weg, um zu ‘antworten. Sie glitt aus dem Stuhl und sank zu Boden.
Frankie saß, eingewickelt in ihren Bademantel, auf dem Motel bett und starrte auf das Bild mit dem See, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Vom angrenzenden Bad, dessen Tür offen stand, drangen Wasserdampfschwaden ins Zimmer, die fast die Möwen auf dem Duschvorhang und die Leuchttürme auf der Ta gesdecke zum Verschwinden brachten.
Clay war immer noch unter der Dusche. Er hatte vorhin mit Borden telefoniert, und jetzt warteten sie auf Detective Dawsons Rückruf.
Die Absurdität der Zimmerdekoration verfehlte gänzlich ihre Wirkung auf Frankie. Sie war viel zu sehr außer sich, um zu be merken, dass die Einrichtung besser zu einem Motelzimmer am
Meer gepasst hätte als zu einem in der Wüste. Ihr Herz schlug unregelmäßig, mal raste es, mal drohte es auszusetzen, und ob wohl sie wusste, dass das von der Aufregung herrührte, wusste sie auch, dass sie dagegen machtlos war. Das würde so bleiben, so lange jeder neue Tag neue Aufregungen mit sich brachte.
Sie legte sich aufs Bett zurück, schloss die Augen und dachte an das Foto des Jungen, das ihr Miss Bell gezeigt hatte. Es war wirklich höchst seltsam, dass sie sich nicht an ihn erinnern konn te, und doch war sie sich aus irgendeinem Grund sicher, dass sie ihn auf Anhieb wiedererkennen würde, obwohl er heute natür lich kein Junge mehr, sondern ein Mann war. Vor allem die er schreckend leeren Augen.
Sie rollte sich auf die Seite, schob ihre gefalteten Hände unters Kinn und ließ die Ereignisse des Tages Revue passieren. Beim Anblick des Fotos war sie einfach ohnmächtig geworden. Was bedeutete, dass sich ihr Körper, ihr Geist gegen irgendetwas ge wehrt hatten. Und obwohl sie wusste, dass es da einen Teil in ihr gab, der sich an den Jungen erinnerte, hatte sie keine Möglichkeit herauszufinden, ob es auch einen gab, der sich an den Mann erin nerte. Oder gar, was an ihm so schrecklich war, dass schon allein ein Foto von ihm diese Reaktion in ihr hervorrief.
Doch angenommen, es stimmte, dass ihr Entführer dieser Mann aus ihrer Vergangenheit war, wie hatte er sie nach all den Jahren gefunden? In Kitteridge House hatte niemand gewusst, wo sie lebte. Dort konnte er es also nicht in Erfahrung gebracht haben. Alles in allem hatte sie bis zu ihrem Verschwinden ein vollkommen unauffälliges Leben geführt. Sie und Clay gehörten nicht zu den Leuten, die regelmäßig in den Klatschspalten der Boulevardpresse auftauchten, und Frankie hatte in ihrem Leben noch nicht einmal einen Strafzettel
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