Das Teehaus im Grünen
energisch aus der Küche auf. Mit zitternder Stimme rief sie: »Ach, Vicky, mein Reformhaus-Mehl ist ja aufgebraucht! Ich habe gerade im Schrank nachgesehen; die Tüte ist leer. Sie wissen doch, daß anderes Mehl Gift für mich ist!«
Im ersten Augenblick blieb Vicky die Antwort schuldig, und Seymour erwartete, daß sie ihr Versäumnis eingestehen würde. Lucy sagte gereizt: »Mrs. Kelston, als Sie zu uns kamen, haben Sie mir fest versprochen, die Küche nicht zu betreten. Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mir in meinen Schränken nachspioniert. Das gewöhnliche Mehl ist doch kein Gift! Unzählige Menschen essen es jeden Tag.«
Die alte Dame erschrak. Ihre Lippen zitterten, aber sie ließ sich von ihrer Überzeugung nicht abbringen. Sie behauptete steif und fest, die Gelegenheiten, wo sie gewöhnliches Mehl zu sich genommen hätte, hätten furchtbare Folgen gehabt. Sie schilderte die schrecklichen Symptome aufs ausführlichste.
Da griff Vicky lachend ein. »Kein Grund zur Aufregung, Mrs. Kelston! Ihr Mehl war beinahe alle. Man bekommt es ja so schwer; auch Len führt es nicht, wie Sie wissen. Wir müssen es immer aus der Stadt besorgen. Aber ich habe gerade vorhin eine neue große Tüte bekommen.«
Mrs. Kelston war sichtlich erleichtert. »Vicky, Sie sind ein Engel! Außer meiner Haushälterin hat noch niemand so liebevoll für mich gesorgt wie Sie!« Dann aber bohrte sie weiter. »Wie ist denn das Mehl hierher gekommen? Es war doch heute niemand in der Stadt, soviel ich weiß.«
Vicky zögerte etwas und antwortete errötend: »Von uns war keiner in der Stadt, aber Mr. Seymour war so nett, es mitzubringen.« Sie sah ihn bittend an. James Seymour öffnete den Mund und machte ihn gleich wieder fest zu. Er blickte eisern zum Fenster hinaus, als Mrs. Kelston ihm ihren Dank aussprach, und redete kein Wort, solange die alte Dame in der Nähe war. Dann brach Vicky das Schweigen.
»Mein Gott! Schaut doch nicht so feierlich und ungnädig drein, ihr beiden! Ich mußte ihr doch irgend etwas erzählen. Wenn sie erführe, daß sie schon die ganze Zeit über das gewöhnliche Mehl gegessen hat, würde sie uns heute nacht mit ihren Beschwerden aus dem Bett holen. Außerdem wäre sie todunglücklich.«
»Und das Glück ist immer wichtiger als die Wahrheit, nicht wahr?« fragte Seymour ruhig.
Vicky wurde feuerrot. »Sie sind ziemlich selbstgefällig, mein Herr! Sie wollen wohl über mich zu Gericht sitzen? Begreifen Sie denn nicht, daß der Umgang mit Mrs. Kelston nicht so einfach ist? Was wäre gewonnen, wenn sie kündigt und uns verläßt? Denken Sie doch mal an Harrys Sorgen! Hier ist sie glücklich und gut aufgehoben. Es ist die beste Manier, um mit ihr auszukommen. Sie haben ja gesehen, daß Lucy nichts erreicht hat.«
Verdrießlich gab er zu: »Sicherlich fehlt es ihr an gesundem Menschenverstand, trotzdem...«
»Also warum nicht eine kleine Geschichte? Sie merken doch selbst, daß sie nicht in der Wirklichkeit, sondern in ihrer eigenen Traumwelt lebt, wo man sie auch, zu ihrem Glück, lassen sollte. Phantasielose Leute sind ein Greuel!«
»Wir wollen dich ja auch nicht verurteilen«, meinte Lucy lächelnd. »Ich war nur neugierig, wie du dich da herauswinden würdest; daß es dir irgendwie gelingen würde, davon war ich überzeugt. Immerhin bist du in diesen Dingen in letzter Zeit etwas aus der Übung gekommen.«
»Wahrhaftig, ich habe mich mächtig gebessert! Trotzdem kommt es mir oft albern vor, sich krampfhaft an die Wahrheit zu klammern, während man die Menschen mit einer kleinen Notlüge viel leichter besänftigen kann. Sehen Sie mich nicht so ungnädig an! Haben Sie niemals geschwindelt?«
»Vermutlich ebenso oft wie andere Leute auch. Aber niemals gegenüber jemandem, an dem mir etwas lag.«
»Da tue ich’s ja auch nicht. Lucy belüge ich nie. Stimmt’s Lucy? Sogar als du damals so böse auf mich warst, als ich Daddys Haus verkauft hatte, blieb ich dabei.«
»Ihres Vaters Haus?« Er konnte sein Interesse nicht verbergen, und sie berichtete von ihrem heimlichen Brief an den Anwalt, und wie Lucy damit gar nicht einverstanden gewesen sei.
Er äußerte sich nicht weiter, aber ihm fiel ein, daß das ja erst ein paar Monate zurücklag. Vicky hatte dieses Opfer gebracht, damit der volle Kaufpreis gezahlt werden konnte. Er hatte das Geld nicht gebraucht, für sie aber war es alles gewesen, was sie besaß. Plötzlich war er gerührt.
»Das war zwar kein gutes Geschäft, aber immerhin sehr moralisch«, war
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