Das Teehaus im Grünen
schlaflosen Stunden der letzten Nacht hatte er Klarheit über seine Gefühle gewonnen. Er wagte zu hoffen, daß auch er ihr nicht gleichgültig wäre. Doch dann verließ ihn sein Selbstvertrauen: er maß wohl solch einem Augenblick der Panik zuviel Bedeutung zu. Wahrscheinlich war es noch zu früh. Aber vielleicht später?...
Plötzlich brach sie das Schweigen. »Haben Sie es recht eilig? Oder haben sie ein wenig Zeit für mich?«
»Aber selbstverständlich!« erwiderte er überrascht.
Vicky hatte das, was sie ihm sagen wollte, fast auswendig gelernt; sie hatte sogar die Absicht gehabt, ein paar Tränen zu vergießen. Doch jetzt war sie so aufgeregt wie nie zuvor. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, und sie brachte kein Wort heraus.
»Na, wo fehlt’s denn?« fragte er. »Ist das Leben so schwer? Sie haben sich aber auch viel aufgeladen — all die Arbeit mit dem Kochen und Backen und dem Servieren! Außerdem wollen Sie auch noch alle glücklich machen. Es ist wirklich viel verlangt von einem Mädchen in Ihrem Alter! Und nun müssen Sie auch noch für mich kochen! Wird es Ihnen zuviel?«
»Aber nein, das macht mir überhaupt keine Mühe! Darum geht es nicht. Ich bin kräftig genug und viel älter, als Sie denken.«
»Genau gesagt, um Ihren Lieblingsausdruck zu gebrauchen: ich schätzte Sie auf neunzehn Jahre, bis Sie mir neulich Ihre Lebensgeschichte erzählten.«
»Ich bin viel älter! Ich bin dreiundzwanzig!«
»Und ich bin sogar noch zehn Jahre älter«, stellte er bedauernd fest. Die stillschweigende Folgerung war unüberhörbar: Ich bin zu alt für dich.
»Dreiunddreißig ist nicht alt für einen Mann«, versetzte sie rasch.
»Aber ich weiß gar nicht, wie wir auf dieses Thema gekommen sind. Ich habe etwas ganz anderes auf dem Herzen. Wollen Sie mir einen großen Gefallen tun?«
Er konnte sich nicht vorstellen, daß es etwas gäbe, was er nicht für sie tun würde, wenn sie ihn so ansah. Doch er sagte nur: »Ich will’s versuchen.«
Abermals wurden sie unterbrochen. Aus der Tiefe des Gartens kam Mrs. Kelston auf sie zugeschossen. Ihr weißes Haar flatterte im Wind und sie kreischte förmlich mit schriller Stimme: »Die Bienen! Die Bienen schwärmen!«
»Kreuzdonnerwetter!« brummte James Seymour halblaut; aber sie hörte ihn nicht. Ganz außer Atem fuhr sie auf ihn los: »Sie sind hier — Gott sei Dank! Wir brauchen unbedingt Hilfe. Vor allem brauchen wir eine Leiter. Vicky, holen Sie einen großen Karton! Ein großer Bienenschwarm hängt an der einen Eiche. Wir müssen ihn einfangen. Dann haben wir unseren eigenen Honig!«
Vicky sah Seymour ängstlich an und drängte sich an ihn. Dan samt seinen Schwierigkeiten war vergessen. Ein einziger großer Käfer war schon schlimm, und nun gar ein ganzer Bienenschwarm!
»Schnell, Vicky, einen Karton! Wir müssen sie fangen! Wir haben dann unseren eigenen Bienenstock. Und massenhaft Honig! Und die Bienen werden dann glücklich durch den Garten summen! Schnell, einen Karton!«
Mit Entsetzen dachte Vicky an den Bienenschwarm; sie schluckte zweimal und entgegnete energisch: »Es tut mir leid, Mrs. Kelston, aber das geht einfach nicht. Es ist unmöglich.«
Die alte Frau traute ihren Ohren nicht. Außer bei den großen Insekten hatte Vicky stets soviel Verständnis gezeigt. »Aber weshalb denn nicht?« fragte sie. »Sie haben doch nicht etwa Angst? Ihren Freunden tun die Bienen nichts.«
Seymour konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, kam jedoch dem jungen Mädchen zu Hilfe.
»Vielleicht ist Miss O’Brian keine Bienenfreundin, oder die Bienen wollen nichts von ihr wissen.«
»Dann müssen wir beide sie fangen, Mr. Seymour! Wenn sie die Leiter holen und hinaufsteigen, halte ich den Kasten.«
Jetzt wurde es spannend. Seymour sah schon etwas bedenklicher drein, und Vicky sagte schnell: »So geht das nicht. Wir können uns nicht einfach einen Bienenstock anschaffen, Mrs. Kelston. Man braucht dazu eine behördliche Genehmigung. Sonst verstößt man gegen das Gesetz.«
»Das Gesetz? Wieso hat das Gesetz über unser Verhältnis zur Kreatur zu entscheiden?«
»Es ist aber so«, improvisierte Vicky drauflos. »In dem Gesetz über Insekten, Seite neun, Paragraph sieben, ist das alles festgelegt.« Sie begegnete Seymours fragendem Blick und mußte kichern.
»Da muß das Gesetz verbessert werden! Das ist ja nackte Gewalt! Ich werde an die Zeitung schreiben. Sie sind ein einflußreicher Mann, Mr. Seymour! Sie müssen an den zuständigen Abgeordneten schreiben. Das
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