Das Testament der Jessie Lamb: Roman
ständig Streit. In einem Club lernte Rosa einen Drummer kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick, und sie zog zu ihm. Wenn er getrunken hatte, wurde er jedoch gewalttätig. Er verprügelte sie, deshalb zog sie wieder zu ihrer Mum. Ihre Mum war Aushilfskrankenschwester, und so erfuhr Rosa von den tiefgefrorenen Embryos.
Alle Menschen, die Rosa kennenlernte, machten ihr das Leben nur noch schwerer. Die Kids in der Schule – auch ich. Ich ging ihr aus dem Weg, hielt sie für seltsam, hasste sie, weil sie mit Baz gegangen war. Beinahe kam ich mir vor wie ihre Mörderin. Ich dachte, sie hat sich nur wegen uns für das Programm gemeldet. Ich dachte daran, mit Mr. Golding darüber zu sprechen. Dann musste ich an Baz’ Bemerkung denken: »Ihr seid beide verrückt.« Was würde sie tun, wenn Golding sie abwiese? Zu ihrer Mum zurückkehren? Sie wollte hier sein; genau wie ich.
Wir haben angefangen, uns gegenseitig unsere Träume zu erzählen und unsere flüchtigen Gedanken auszutauschen. Und wir sprechen über unsere Kinder und stellen uns vor, sie würden wie Bruder und Schwester sein. Sie möchte ihr Kind Zac nennen. Ich hoffe, die beiden werden einander kennenlernen.
Und das ist merkwürdig. Denn du wirst erfahren, ob es dazu kommt, ich aber nicht. Dein Leben ist mein Traum, und ich verliere mein Leben, damit du leben kannst. Dann werde ich für dich ein Traum sein. Wir tauschen die Plätze, überschreiten die Grenze zwischen Leben und Tod. Aber du wirst nicht tot sein. Du bist noch nicht lebendig, aber ich habe kein Wort für deinen momentanen Zustand. Du wartest darauf, lebendig zu werden. Vielleicht taut man dich gerade auf, und das ganze magische Muster der Gene und Zellen, das dich einmal ausmachen wird, kommt in Gang. Ich muss dabei an eine Zaubermuschel denken, die einmal in meinem Weihnachtsstrumpf steckte; eine unauffällige kleine, graue Muschel. Wirft man sie ins Wasser, öffnet sich die Muschel langsam, und eine wunderschöne, leuchtend rote Blume windet sich heraus. Das bist du!
Die Demonstranten sind durchgedreht, und es gab zahlreiche Festnahmen. Trotzdem kam Dad mich besuchen. Mr. Golding habe ich gesagt, ich wäre nervös, deshalb hat er ihn von einem Wachmann zu meinem Zimmer eskortieren lassen, der draußen gewartet hat. Dad hat mich umarmt, dann hat er sich auf den Stuhl am Fenster gesetzt. Er hatte einen Verband an der rechten Hand, die Finger schauten heraus. Ich saß auf dem Bett, und wir schwiegen. Ich überlegte, was ich sagen könnte, dann schaute ich hoch, und er weinte. Ich bat ihn aufzuhören. Er stand auf und wandte mir den Rücken zu, sah aus dem Fenster und rieb sich die Augen. Als er sich beruhigt hatte, ging ich zu ihm, und er legte mir den Arm um die Schultern. Wir schauten gemeinsam in den kraftlosen Frühlingssonnenschein und zu den Baumknospen hinaus.
»Das perfekte Verbrechen«, sagte er leise.
»Ja?«
»Rede einer unschuldigen, idealistischen jungen Frau ein, die Zukunft der Menschheit hinge davon ab, dass sie ihr Leben opfert. Sie geht so vertrauensvoll ins Krankenhaus wie ein Lamm zur Schlachtbank. Sie freut sich auf das Einpflanzen des Kindes, das sie umbringen wird. Während ihr Gehirn zerstört wird, liegt sie neun volle Monate lang da, und die Polizei wird dich nicht festnehmen, kein Gericht wird dich verurteilen, du kommst ungeschoren davon. Nach Ablauf der neun Monate schaltet man die lebenserhaltenden Geräte ab, dann ist sie tot. Und niemand wird zur Rechenschaft gezogen.«
»Dad«, sagte ich. »Das stimmt doch nicht.«
Er schüttelte den Kopf.
»Hör mal zu«, sagte ich. »Weißt du, was das perfekte Verbrechen ist? MTS . Stell ein Virus her, das tödlich und ansteckend ist. Man braucht nicht einmal vor Ort zu sein, das Virus verbreitet sich von allein auf der ganzen Welt und tötet Millionen Frauen, und es gibt keine Verbindung zum Täter. Massenmord aus der Ferne. Das ist das perfekte Verbrechen.«
»Das stimmt«, sagte er.
»Und was ich vorhabe, ist die perfekte Lösung.«
Er drückte mir die Schultern. »Du bist wirklich nie um eine Antwort verlegen, Jessie.«
»Mein Vater ist schließlich der Quell aller Weisheit.«
Er schaute mich an, und ich forschte nach den kleinen Fältchen, die bei ihm ein Lächeln ankündigten. Dann aber sagte er: »Das ist nicht richtig, Jess. Ich wünschte, du würdest es nicht tun.«
»Ich weiß. Aber ich tu’s trotzdem.«
Er ließ mich los und setzte sich wieder auf den Stuhl. »Na schön. Und worüber möchtest du
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