Das Testament der Jessie Lamb: Roman
reden?« Nach einer Pause sagte er: »Übers Wetter?«
»Ich möchte, dass du und Mum mir versprecht, dass ihr euch um sie kümmern werdet.«
»Sie?«
»Sie, ihn, ich weiß es nicht. Ich stelle mir immer ein Mädchen vor.«
»Wenn ich mich weigere, würde dich das von deinem Vorhaben abhalten?«
»Nein.«
»Cath und ich sollen unsere eigene Tochter aufgeben und ein fremdes Kind großziehen. Wir sollen jeden einzelnen Schritt der vergangenen sechzehn Jahre, die wir mit dir zusammen glücklich durchlebt haben, wiederholen, und uns jeden Tag an das erinnern, was wir verloren haben.«
»Sie ist kein fremdes Kind für euch.«
Er stutzte.
»Das Kind wird meine Halbschwester oder mein Halbbruder sein. Mr. Golding hat gemeint, das wäre in Ordnung.«
Es entstand ein kurzes Schweigen. »Du hast keinen Anlass zu glauben, dass wir damit einverstanden wären.«
»Ihr habt einen Grund, euch um das Kind zu kümmern.«
»Es gibt keinen Grund. Du musst das nicht tun. Es wird andere Lösungen geben.«
»Dad …«
»Die wird es geben, das kannst du mir glauben. Bitte.« Er kniete nieder und schlang die Arme um meine Beine. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Der Wachmann zog ihn hoch und brachte ihn weg. Der Besuch von Mum am Nachmittag verlief ebenso schlimm. Ich ertrage es nicht, und ich kann’s nicht ändern, und ich kann nichts tun. Es tut mir leid. So leid.
Heute
S o, meine Liebe, du bist implantiert. Jetzt liegt es an dir, ob du leben wirst. Ich habe geschrieben und geschrieben, bis mir die Arme wehtaten und ich am Mittelfinger eine Schreibschwellung bekam. Und jetzt sitze ich einfach nur am Fenster und lasse meinen Geist innerlich leer werden. Was ich jetzt noch schreibe, ist eine Art Klammern, denn ich will nicht loslassen. Ich sollte Lebewohl sagen, meinst du nicht auch? Rosa und ich haben versucht, uns euer Leben vorzustellen – dein Leben, Rae, und das von Zac. Wir hoffen, dass ihr Freunde werdet. Aber im Grunde geht es darum: Ich muss enden, damit du beginnen kannst. Dein Leben kommt nach meinem.
Rosa ist heute Morgen auf die Station gekommen, und Dr. Nichol hat mir soeben mitgeteilt, dass ihre Schwangerschaft sich bestätigt hat. Morgen werde ich getestet. Jetzt, da die Verabschiedungen hinter mir liegen, muss ich mit niemandem mehr sprechen. Ich genieße es, meine Ruhe zu haben, in meinem kleinen Zimmer am Fenster zu sitzen und in die Welt hinauszuschauen. Ich genieße es, wie sie entschwindet, wie alle Sorgen nichtig werden, so mühelos abzustreifen wie Spinnweben.
Von hier oben beobachte ich gern die Hauptstraße. Jetzt, da die Demonstranten verschwunden sind, fließt wieder der Verkehr. Ich stelle mir vor, wohin die Fahrer wohl unterwegs sein mögen. Vielleicht hat der da Überstunden gemacht und fährt nach Hause. Er wird die Haustür öffnen und »Hallo!« rufen, dann geht er in die warme Küche und knöpft sich den Mantel auf. »Endlich!«, sagt seine Frau, »ich komme um vor Hunger.« Sie nimmt die Fischpastete aus dem Backofen. »Hast du auf mich gewartet? Das ist lieb von dir«, sagt er und zieht seinen Stuhl an den Tisch. »Das riecht gut.«
Vielleicht ist der da unterwegs zu einer Besprechung, bei der es um die Schließung eines Kindergartens geht. Er trifft als Erster dort ein, stellt die Stühle auf dem blauen Teppich im Kreis auf, setzt sich an einen der kleinen Tische und verfasst eine Tagesordnung. Vielleicht sucht die da nach ihrer vermissten Katze, sie hat braun-weißes Fell wie eine unreife Kastanie. Sie fährt langsam und späht in die Dunkelheit.
Vielleicht fährt der dort zum Flughafen. Er trifft niemanden, spricht mit niemandem. In seiner Aktentasche ruht still und tödlich ein Metallkasten mit einem in Baumwolle eingewickelten Fläschchen. Ein neues Virus. Er hasst alle Menschen, er ist der perfekte Verbrecher. Doch als er hinter dem Kreisverkehr beschleunigt, quert vor dem entgegenkommenden Fahrzeug eine Katze mit braun-weißem Fell, das an eine unreife Kastanie erinnert, die Fahrbahn. Der Wagen bremst, gerät ins Schleudern und prallt gegen den Wagen des Menschenhassers. Sein Wagen überschlägt sich und gerät in Brand, er ist auf der Stelle tot. Die Hitze frisst sich durch die Aktentasche und lässt den Metallkasten zu einem dicht verschlossenen schwarzen Klumpen schmelzen, in dem das Virus für alle Ewigkeit sicher verschlossen ist.
Ein Mann hält an, um zu helfen, und ruft einen Krankenwagen. Als er langsam zum 24-Stunden-Supermarkt fährt, ist er in Gedanken bei
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