Das Testament der Jessie Lamb: Roman
können die nicht zu Hause trauern? Den toten Frauen ist es doch egal!«
Ich hielt das für normal, so war das. Wenn man jung ist, hält mal alles für normal. Hat die Mutter einen spitzen Kopf und grüne Ohren, findet man das normal. Erst wenn man älter wird, begreift man, dass nicht alle Menschen so sind. Nach und nach wird einem klar, dass man in einer seltsamen Zeit lebt und dass es früher anders war. Je unbehaglicher und verunsicherter man sich fühlt, desto stärker wird der Wunsch zu sein wie alle anderen und sich anzupassen, desto mehr entgleitet einem die Normalität, weil für einen selbst eben nichts mehr normal ist. Oder wenn doch, ist man darauf angewiesen, sich bei anderen Menschen eine Bestätigung dafür zu holen. Wozu ich anscheinend überhaupt nicht in der Lage bin.
Damals, in der Vergangenheit, lieferte Sal mir Bestätigung. Wir beide kannten alle Antworten. Und wir hielten es für normal, dass Frauen starben. Oder schlimmer noch, wir glaubten, sie hätten es vielleicht verdient, weil sie etwas Schändliches getan hatten. Ich glaubte damals, wenn man aus dem Leben schied, träfe einen zumindest eine Mitschuld. Man musste etwas Schlechtes in sich tragen, um ein solches Schicksal auf sich zu ziehen – zumal wenn man an MTS starb, denn das bedeutete, man hatte Sex gehabt.
Die erste Bekannte von mir, die starb, passte genau in das Schema. Caitlin McDonagh im zehnten Schuljahr. Die Lehrer, die ich von der Grundschule an hatte, oder die Frauen, die Mum und Dad kannten, zählten für mich nicht, denn das waren Erwachsene, und Erwachsene waren (jedenfalls damals in meinen Augen) alle alt und würden bald sterben. Caitlin aber heulte sich im Geschichtsunterricht auf einmal die Augen aus dem Kopf, und man brachte sie ins Büro des Direktors, und sie kehrte nicht mehr zurück. Ihre beste Freundin erzählte uns, sie sei schwanger, und wir stellten sie uns mit ihrem ordinären Freund vor, der um die zwanzig war, und sie kamen uns vor wie Verräter. Aber ein paar Wochen danach kamen Ärzte in die Schule und verpassten uns allen Implanon-Implantate, obwohl die meisten von uns noch keinen Freund hatten, deshalb würde keine von uns so bestraft werden wie Caitlin, egal, was für schlimme Sachen wir anstellten.
Sal und ich waren neugierig, doch es berührte uns nicht sehr. Das kam erst später – an dem Tag, als wir von ihrem Tantchen erfuhren. Wir waren in ihrem Zimmer, auf dem Boden war ihre Kleidung verstreut. Wir versuchten, die besorgte Stimme ihrer Mutter zu überhören, die unten telefonierte.
»Hast du gestern Abend die Ärzte in den Nachrichten gesehen?«, fragte Sal.
»Ich glaub nicht.«
»Die haben erklärt, wie sich MTS auf das Gehirn auswirkt. Da entstehen Löcher. Sie haben gemeint, bei Frauen, die es bekommen, sieht das Gehirn irgendwann aus wie Schweizer Käse.«
»Widerlich.«
»Ja, die verlieren Teile ihres Gehirns, können nicht mehr das Gleichgewicht halten und werden vergesslich.«
»Glaubst du, es tut weh?«
»Das haben sie nicht gesagt. Einige sterben ganz schnell. Nach nur dreitägiger Krankheit.«
Wir waren uns darin einig, dass das Wissen um das, was einem bevorstand, das Schlimmste sei. Wer möchte schon gern wissen, dass sich das eigene Hirn in einen Schweizer Käse verwandeln wird? Eine Weile saßen wir da und schwiegen. Sal hatte viel mechanisches Spielzeug, denn das sammelte sie – wir zogen eine Nonne und eine Lisa Simpson auf und ließen sie auf dem Schreibtisch um die Wette laufen. Die Nonne gewann. Wir brachten auch noch einen Bleistiftspitzer in Briefkastenform und ein Auto ins Spiel. Mit vier Wettläufern ist es schwieriger, denn man muss sie aufziehen und festhalten, ohne dass das Federwerk abläuft. Ich dachte, wenn die Nonne noch einmal gewinnt, würde sie bestimmt ein Heilmittel für MTS finden, Lisa aber fiel vom Schreibtisch, und die Nonne und der Briefkasten stießen zusammen.
»Vielleicht werden wir nie Kinder haben«, meinte Sal.
»Wenn die jüngsten Menschen, die jetzt leben, einmal alt sind …«
»Werden sie die letzten Menschen auf Erden sein.« Das kam seit einer Ewigkeit in den Nachrichten, aber auf einmal konnte ich es mir auch vorstellen. »Wenn wir alt werden, wird es keine Kinder mehr geben.«
»Man wird die Schulen schließen müssen.«
»Alle Sachen, die Kinder brauchen – die werden nicht mehr hergestellt.«
»Windeln, Babykleider, Kinderwagen.«
»Das wird richtig unheimlich sein.«
»Und wenn wir alt sind, werden alle alt sein.
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