Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Niemand wird mehr arbeiten.«
»Keine Geschäfte mehr, keine Müllmänner und keine Busse.«
»Nichts. Alles wird knirschend zum Stehen kommen.«
Sal schaltete den Fernseher ein. An einem heiligen Ort in Indien war es zu Unruhen gekommen. Zu viele Frauen wollten dort gleichzeitig beten, einige waren in Panik geraten, und viele Menschen wurden zu Tode getrampelt. Sie stellte den Ton ab. »Eigentlich ist es sinnlos, dass wir Hausaufgaben machen, findest du nicht? Wenn wir demnächst aussterben.«
Wir dachten an all das, was sinnlos werden würde, die Uni, Arbeit, Ehe, Hausbau, Landwirtschaft, Straßenreparaturen.
»Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als das Beste daraus zu machen, bis wir sterben«, sagte Sal. »Es wäre völlig egal, was wir machen. Da würde sich niemand drum scheren.«
Ich wollte schon meiner Sorge Ausdruck verleihen, dass es dann niemanden mehr gäbe, der die letzten Toten einäschern oder begraben würde. Dann aber fiel mir ein, dass wohl Tiere sie fressen würden. »Die Erde wird ein friedlicher Ort sein. Keine Autos, Flugzeuge und Fabriken mehr – keine Luftverschmutzung. Die Pflanzen werden sich nach und nach in den Städten ausbreiten …«
Wir stellten uns vor, dass unsere Häuser allmählich verfallen würden, und unterhielten uns darüber, wie es wohl wäre. Bevor die letzten Menschen starben, müsste man die Zootiere freilassen. Die würden wahrscheinlich einigen von uns ein noch früheres Ende bereiten. Und die Tiere würden sich an das Leben in ihrem neuen Revier gewöhnen und es in Besitz nehmen. In England würde es wieder Wölfe und Bären geben. Tiger würden sich von den Rinderherden ernähren, die niemand mehr hütete. Die Äste der Bäume würden über die Straße ragen, die Hecken würden verwildern, Unkraut würde aus dem Asphalt sprießen. Nach hundert Jahren wäre die Welt wieder ein einziger großer Naturpark, die bedrohten Tierarten würden sich wieder vermehren, im Meer gäbe es riesige Kabeljauschwärme, auf den Kirchtürmen würden Adler nisten. Ich musste an den Garten Eden denken, an das Paradies, wie es gewesen war, bevor Adam und Eva es vermurkst hatten.
»Aber stell dir nur mal vor, niemals ein Baby in den Armen zu halten.« Sal stellte den Ton lauter; es lief der Werbespot mit den tanzenden Joghurtbechern, den wir immer mit hoher, gequetschter Stimme mitsangen, und das taten wir auch diesmal.
Dann kam ihre Mum verweint zu uns nach oben und teilte Sal mit, dass ihr Tantchen gestorben sei. Ich hatte nicht mal gewusst, dass Tantchen schwanger gewesen war. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und war ganz fixiert auf den Geruch nach Verbranntem, der zu uns hereinwehte, als ihre Mum die Tür öffnete. Ein süßlicher Geruch, der im Hals kratzte – es war der Schokoladenkuchen, den wir gemacht hatten und den ihre Mum im Auge behalten sollte. Ich verabschiedete mich verlegen und ging nach unten. An der Hintertür winselte ihr Hund Sammy, und ich ließ ihn rein, dann stellte ich den Backofen ab. Es hatte keinen Sinn hineinzuschauen, denn ich konnte mir denken, dass der Kuchen verbrannt war. Trauer empfand ich keine. Es war mir einfach gleichgültig . Was wird wohl als Nächstes passieren?, überlegte ich. Als gingen mich die Menschheit und deren Schicksal nicht das Geringste an. Als raste ich mit dem Fahrrad im Leerlauf bergab, hinein in die stille Schwärze der Nacht.
2
Zu der Zeit zankten Mum und Dad sich ständig, und wenn sie einen Anlass fanden, schnauzten sie auch mich an. Ich nehme an, dass sie sich wegen MTS Sorgen machten, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie mit mir darüber gesprochen hätten. Ich erinnere mich nur an endlose Streitereien. Wenn ich morgens aufwachte, war schon dicke Luft, als wäre Gas ausgeströmt. Sie erledigten ihre Verrichtungen, ohne miteinander zu sprechen, gingen einander höflich aus dem Weg, behandelten mich übertrieben freundlich. So ging es manchmal tagelang, dann war irgendwann ohne erkennbaren Grund damit Schluss. Dad schenkte Mum zum Beispiel ein Glas Wein ein und reichte es ihr mit einer kleinen Verbeugung, oder er fragte sie, ob sie mit ihm eine DVD anschauen wolle. Und auf einmal war wieder alles gut. Weil sie sich dazu entschieden hatten. Der einzige friedliche Abend war der am Dienstag; Mum hatte Spätdienst im Krankenhaus, und ich und Dad aßen zusammen.
Dienstagabend in der Küche.
Dann legt Dad alle Zutaten säuberlich geordnet nebeneinander auf die Arbeitsplatte, wiegt und misst sie auf
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