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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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Okay. Er würde sagen: »Ich habe dir nicht genug vertraut, um das mit dir zu besprechen, und eigentlich ist mir gleichgültig, was du davon hältst, denn für mich geht das auf jeden Fall in Ordnung.« Er würde sagen: »Ich bin dir überlegen, denn mir geht es darum, die Welt zu retten, während du dich einfach nur durchwurstelst und mit dummen kleinen Aktionen wie Demos begnügst.«
    Ich überlegte so angestrengt, dass ich das Gefühl hatte, meine Augäpfel träten aus ihren Höhlen. Er konnte mich nicht lieben. Niemand konnte mich lieben. Mein Vorhaben war die eigensüchtigste Sache der Welt. Ich saß so lange da, bis ich den harten Holzstuhl nicht mehr vom steifen, knochigen Jessie-Hintern unterscheiden konnte. Ich hatte kein Recht, irgendjemanden um Unterstützung zu bitten, denn ich begab mich willentlich außerhalb ihrer Reichweite.
    Du kannst ihn nicht besuchen, sagte ich mir. Du kannst nicht einfach hingehen und ihn bitten, dir wieder gut zu sein; du kannst ihn nicht küssen und umarmen, denn er hat recht, das wäre gelogen. Du liebst dein Vorhaben mehr als ihn. Es war nicht so, als hätte ich aufgehört, ein Mensch zu sein. Wenn ich weitermachte, würde ich allein sein. Würde Mum und Dad wehtun; würde meine Freunde gegen mich aufbringen; würde alles hinter mir lassen.
    Aber wenn ich es mir anders überlegte – dann könnten Baz und ich zusammen glücklich sein. Ich könnte Sal wiedersehen, und nach und nach würde sie wieder so werden wie früher. Ich könnte mich um Mum und Dad kümmern und sie nach Mandys furchtbarer Krankheit trösten. Ich könnte lieben und geliebt werden. Aber bei alldem empfand ich eine Traurigkeit wie für etwas Vergangenes. Der Schock des Begreifens war kalt, als würde ich mit dem Fallschirm am Nordpol abgesetzt. Ich war allein und wusste es, und alles andere war Schauspielerei. Alles andere war ein Bild meines Lebens, eine Geschichte. Weiterzugehen bis zu der Nadelspitze in der Klinik – das war real. Ich war ein Pfeil im Flug und konnte von niemandem Mitgefühl oder Freundlichkeit erwarten.
    Als ich schließlich vom Stuhl rutschte und in die Küche schlurfte, um Wasser heiß zu machen, war ich um hundert Jahre gealtert. Wie Rip van Winkle. Mein Herz war zu Eis gefroren.

24
    Ich sah Mandy nicht mehr wieder. Am Nachmittag hatte sie eine »schlechte Phase«, wie Dad sich ausdrückte, und meine Eltern riefen den Arzt, der sie auf der Stelle sedierte. Von da an war es so, als wäre sie bereits von uns gegangen.
    Am Abend kam Dad nach Hause, und wir sprachen über Mandy und Mum, und dann holten wir die Fotoschachtel hervor und schauten uns die alten Bilder an, angefangen mit denen, auf denen ich noch ganz klein war. Mandy mit uns im Urlaub; Mandy, wie sie mir Fahrradfahren beibrachte; Mandy lachend im Wasser planschend; Mandy, wie sie mein Stoffseepferdchen zum Tanzen brachte. Die besten wählten wir für ihre Beerdigung aus. Ich musste daran denken, dass Mum und Dad das Gleiche bald für mich würden tun müssen. Als ich die Fotos betrachtete, auf denen ich lächelnd am Strand entlangstapfte oder mir Hände voll Sand in den Mund stopfte, dachte ich zum ersten Mal an das Baby. An mein Kind. Ich stellte es mir mit Mum und Dad vor. Ich stellte mir die drei zusammen vor und war neidisch und froh und voller Angst, alles zugleich.
    Dad erzählte mir, Frauen von FLAME hätten die Klinik blockiert – seine und auch noch die anderen Kliniken im ganzen Land, in denen Schlafende Schöne untergebracht seien. Man habe Wachposten an den Eingängen aufgestellt, doch die Laborangestellten hätten auch eine eigene Patrouille organisiert, um zu verhindern, dass die Embryos gefährdet würden. Alle fünf Tage müsse er in der Klinik übernachten.
    Als er am nächsten Morgen zur Arbeit gefahren war, brachte ich drei der Plastiktüten mit den Sachen aus meinem Zimmer zum Secondhandladen für Kinder in Ashton. Drinnen sah es deprimierend aus; Haufen von Plastiksäcken warteten darauf, ausgepackt zu werden, sie lagen auf der Theke, auf Tischen und auf dem Boden. Als ich die Frau fragte, wo ich meine Säcke abladen solle, zuckte sie mit den Schultern. Sie meinte, die Leute schleppten immer mehr Sachen an. Frauenkleider und Haushaltsgüter; davon hätten sie mehr, als sie gebrauchen könnten, und sie schickten unsortierte Wagenladungen als Lumpen zu den Papierproduzenten. Es tat mir weh, meinen geliebten Besitz an einem Ort zu lassen, wo niemand dafür Verwendung hatte. Dann fiel mir ein, dass meine

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