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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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empfand es auch so. Nichts war erträglich. Mein Herz war tot, und ich funktionierte wie ein Uhrwerk. Aber es war aufgezogen und würde nicht versagen. Sie rief mich von der Arbeit aus an, denn wir hatten verabredet, uns in der Stadt zu treffen. Ich sagte, wenn sie heimkäme, hätte ich das Abendessen fertig.
    In der Küche öffnete ich das Tiefkühlfach und wühlte darin. Der Kälteschmerz in den Fingern war eine Erleichterung. Ich war noch damit beschäftigt, als Dad nach Hause kam – schon am frühen Nachmittag. Er hatte einen Karton mit Akten und Papieren dabei. »Was gibt’s?«
    Er brachte den Karton ins Gästezimmer und kam wieder in die Küche.
    »Dad? Was ist passiert?«
    »Ich habe gekündigt.«
    »Gekündigt?«
    »Wegen Unstimmigkeiten mit Golding.«
    »Wegen mir?«
    Er füllte ein Glas mit Wasser.
    »Kannst du nicht wieder zurückgehen?«
    »Jess, weshalb sollte ich für einen Mann arbeiten, der meine Tochter ermorden will?«
    »Aber du kannst doch nicht deine Arbeit aufgeben!«
    »Glaubst du nicht, es gibt wichtigere Dinge als meine Arbeit?«
    »Nein. Nein. Ich möchte, dass ihr euer Leben weiterführt. Ich will nicht, dass sich etwas ändert.«
    »Na so was. Vielleicht solltest du mal drüber nachdenken, welche Auswirkungen dein Handeln auf andere Menschen hat.«
    »Das weiß ich doch … ich weiß es … ich sage doch ständig, es tut mir leid.«
    »Stimmt. Jedenfalls habe ich gekündigt.«
    Er würde wieder zur Arbeit gehen, wenn ich nicht mehr da war, ganz bestimmt. »Was hat Mr. Golding gesagt?«
    »Er hat gesagt, ich soll meinen Schreibtisch ausräumen, und er werde heute noch den Zugangscode ändern.«
    »Was hast du getan? Hast du ihn geschlagen?«
    Er zuckte mit den Schultern, füllte sein Glas auf und ging ins Nebenzimmer. Hinter sich schloss er die Tür.
    Während ich kochte (ich hatte Tiefkühlspinat und Hüttenkäse gefunden, also, hey, presto – Spinatlasagne), spürte ich, dass er nebenan schlechte Laune verstrahlte wie radioaktiver Abfall. Je länger ich Zwiebeln und Knoblauch hackte und briet, desto überzeugter wurde ich, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse. Mum und Dad verstanden einfach nichts. Sie hielten das für etwas Schlim mes. Wenn ich ihnen begreiflich machen könnte, dass es mich glücklich machte; dass es mir Macht verlieh, eine Entscheidung zu treffen und sie in die Tat umzusetzen; dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben sicher fühlte und die Fäden in der Hand hielt – wenn ich ihnen das klarmachen könnte, würden sie mir bestimmt nicht mehr böse sein. Denn sie wollten doch, dass ich glücklich würde? Ich überlegte, wie ich es ihnen leichter machen könnte. Ich stand auf einem dieser Laufbänder am Flughafen – auf einem Rollsteig −; alle Vorbereitungen waren erledigt, die ganze Hektik, das Vergleichen der Angebote, das Reisefieber und der Abschiedsschmerz waren überstanden, und jetzt war ich unterwegs zum Check-in, wo man mich abfertigen und an Bord des Flugzeugs gehen lassen würde. Und dann … dann würde ich losfliegen. Das hatte nichts Trauriges.
    Was Dad getan hatte, war emotionale Erpressung – er wollte mir demonstrieren, welches Unheil ich in sein Leben brachte, damit ich mich schuldig fühlte und es mir anders überlegte. Er war unglücklich – das stimmte. Ich wünschte, er wäre es nicht gewesen. Aber seine Wutanfälle und sein Schmollen waren ein Versuch, seinen Willen durchzusetzen, und das würde ihm niemals gelingen.
    Bisweilen empfinde ich immer noch so wie damals – fühle mich überlegen, bemitleide ihn; bin traurig darüber, dass er das große Ganze nicht sehen kann. Dann erzittert alles und verwandelt sich, und ich bin wieder das Kind und er der Vater, und ich fürchte mich vor seinem Zorn und dem, was er weiß und ich nicht. Ich fürchte mich vor meinen eigenen Fehlern, ich ertrage seine Missbilligung nicht. Ich hacke Kräuter und verwandele mich wie Alice im Wunderland, wenn sie ihre Trink-mich-Medizin einnimmt und daraufhin wächst oder schrumpft, aber immer die falsche Größe bekommt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer wird es. Mir bleibt nichts anderes übrig, als auf Biegen und Brechen an meiner Entscheidung festzuhalten. Nirgendwo sehe ich einen festen Halt.
    An jenem Nachmittag, als ich die Tomatensauce machte, erschien mir alles einfacher. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich eine Art herablassendes Mitleid für ihn empfand, wie eine Mutter, die ihr ungezogenes Kind aufs Zimmer schickt. »Bleib
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