Das Testament des Satans
gehend, Handgriff um Handgriff am rauen Seil hinab. Die Verbrennungen an meinen Händen schmerzen so sehr, dass ich nicht richtig zupacken kann – aber das ist nichts gegen das Brennen in meinem Gesicht, wo mir der Wind die Nesseln um die Ohren gehauen hat.
Unter mir das Toben des Meeres, über mir das schwarze Brodeln der Eichen. Nur noch ein paar Ellen, dann stehe ich am Schlussstein der rutschigen Rampe und befestige das Ende des Seils mit einem Knoten an einem der großen, von der Gischt umspülten Felsen. So kann es, falls es entdeckt wird, von oben nicht hochgezogen werden. Dieses Seil ist die einzige Möglichkeit für mich, in die Abtei zurückzukehren.
Der Strand besteht aus großen Felsen, die, im Licht der Blitze deutlich zu erkennen, mit gelbem Moos überwuchert sind. Neben mir ragt der Saint-Aubert-Brunnen aus den schroffen Felsen, ein gemauertes Brunnenhaus, das auch bis zur Hochwasserlinie mit Moos bewachsen ist. Im Nordwesten liegt, wie ein Schiff im Sturm, die Saint-Aubert-Kapelle, die auf einem ins Meer ragenden Felsen errichtet wurde. Der Priel, der die Kapelle umgibt, schimmert wie gehämmertes Silber: Die Flut kehrt unaufhaltsam zurück. Schon bald wird das rasch heranströmende Wasser das Watt überspülen. Der Mont wird wieder eine Insel sein, vom Festland abgeschnitten. Eine Welt für sich, eine Welt der Einsamkeit, der Meditation und des Schweigens, eine Welt der bestialischen Gewalt.
Hinter mir, zwei Meilen entfernt, liegt die Tombelaine, vermutlich schon vom Wasser umgeben. Und über mir, oberhalb der Baumkronen, der schwarze Schattenriss der Abtei, wie aus der Nacht herausgebrochen. Eine Bastion des Glaubens, die allen Angriffen …
Na, wer sagt’s denn. Leuchtsignale. Aus einem der Fenster des Kreuzgangs direkt über mir blinkt ein Licht, das die schmale Fensternische erhellt. Also doch! Louis d’Estouteville hatte recht: Es gibt einen englischen Agenten auf dem Mont. Einer der Mönche ist ein Verräter.
Ich blicke zur Tombelaine hinüber: Da kommt die Antwort.
Ein greller Blitz zuckt über den Himmel und schlägt östlich der Insel ein, nahe der Prieuré de Genêts. Die Luft um mich herum vibriert. Ein zweiter Blitz, dann folgt ein lang gezogenes tiefes Donnergrollen, das in einem merkwürdigen Flattern endet.
Hastig krame ich den roten Wachsstift aus der Zunderdose an meinem Gürtel und sehe mich nach einer Schreibunterlage um. Mein Notizbuch ist mir ja vorhin gestohlen worden. Doch außer dem Felsen neben mir gibt es nichts, worauf ich schreiben könnte. Für jedes Leuchtzeichen kratze ich einen Strich auf den Stein.
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Das war’s. Ich zähle rasch durch: zwei-zwei, drei-vier, eins-eins, zwei-drei, eins-fünf, eins-eins, eins-vier.
Diesen Code kenne ich. Der Grieche Polybios, der dieses Verschlüsselungsverfahren im zweiten Jahrhundert vor Christus in seinen Historien beschreibt, hat es nicht einmal erfunden. Es ist noch viel älter.
Rasch kritzele ich die Tabelle mit dem Code auf den Felsen und zähle die Buchstaben aus. Zwei-zwei: Zweite Zeile, zweiter Buchstabe: G. Dritte Zeile, vierter Buchstabe: O. Und so weiter. Im Klartext: Go ahead! Mit anderen Worten: Wir empfangen dich, mach weiter!
Ich wende mich um, lege den Kopf in den Nacken und blinzele hinauf zum Kreuzgang, wo wieder Leuchtsignale aufflackern. Und ich strichele mit.
Während meiner Reise hatte ich sechs Wochen lang Zeit, mit dem schottischen Befehlshaber meiner Bravi Englisch zu lernen – was bei Sir Eoghan Walleys so manchen herzlichen Lachanfall verursachte, bis ich ihm pikiert vorhielt, mein italienischer Akzent sei ja wohl nicht schlimmer als sein schottischer. Ewan, so spreche ich seinen Namen aus, hatte frech gegrinst und »Aye, Mylady!« gehechelt. Mein entnervtes »Buzz off, Eoghan. Go and annoy someone else!« ließ ihn vor Lachen beinahe aus dem Sattel kippen. Verdammter schottischer Trotzkopf! Keinen Respekt hat er! Aber ein guter Kämpfer ist er – wie Sir William Walleys, der schottische Freiheitskämpfer, mit dem er irgendwie verwandt ist.
Nach sechs Wochen Seite an Seite mit Eoghan verstehe ich zwar noch nicht genug Englisch, um alles zu kapieren, was der Geheimagent Seiner Majestät der Garnison auf der Tombelaine mitzuteilen hat. Nur so viel: Er berichtet von meiner Ankunft auf dem Mont, at command of His Holiness the Pope. Und er fürchtet, dass ich ihn enttarne – was den geplanten Angriff auf den Mont gefährden würde.
Verdattert starre
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