Das Testament
Ohren ermordeter Indianer.
Goldgräber griffen 1993 in Manaus die Angehörigen eines friedfertigen Stammes an, die nicht bereit waren, ihnen zuliebe von ihrem Land zu weichen. Dreizehn Indianer wurden ermordet, ohne dass man jemanden dafür zur Rechenschaft gezogen hätte.
Da es im Norden des Pantanal zahlreiche Bodenschätze gibt, hatte sich die Regierung in den neunziger Jahren mit Nachdruck bemüht, das Amazonasbecken dort zu erschließen. Dabei waren ihr immer noch im dortigen Urwald lebende Indianer im Weg: Schätzungen zufolge war es immerhin fünfzig Stämmen gelungen, Kontakte mit der Zivilisation zu vermeiden.
Diese schlug jetzt erneut zu. Die Übergriffe gegen Indianer wurden häufiger, je mehr Bergleute, Holzfäller und Viehzüchter mit Unterstützung der Regierung in jenes Gebiet vordrangen.
Eine fesselnde, aber auch eine deprimierende Geschichte. Nate las vier Stunden ununterbrochen, dann hatte er das Buch aus.
Er ging zum Ruderhaus hinüber und trank Kaffee mit Jevy. Es regnete nicht mehr.
»Werden wir morgen früh dort ankommen?« fragte er.
»Ich glaube schon.«
Die Lichter des Bootes bewegten sich ganz sacht mit der Strömung.
»Haben Sie Indianerblut in Ihren Adern?« fragte Nate nach einigem Zögern. Es war eine persönliche Frage, wie sie in den Vereinigten Staaten niemand zu stellen wagen würde.
Jevy lächelte, ohne den Blick vom Fluss zu nehmen. »Das hat hier jeder. Warum fragen Sie?«
»Ich habe gerade ein Buch über die Geschichte der Indianer in Brasilien gelesen.«
»Und was meinen Sie dazu?«
»Sie ist ziemlich tragisch.«
»Das stimmt. Glauben Sie, dass man die Indianer hier schlecht behandelt hat?«
»Natürlich.«
»Und wie war das bei Ihnen?«
Aus irgendeinem Grund kam ihm als erstes General Güster in den Sinn. Einmal zumindest hatten auch sie gewonnen. Außerdem haben wir sie nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt, mit Chemikalien besprüht oder in die Sklaverei verkauft. Oder? Was ist mit all den Reservaten? Überall Land.
»Ich fürchte, nicht viel besser«, sagte er und gab sich geschlagen. Er legte keinen Wert auf diese Art von Diskussion.
Nach einem langen Schweigen machte sich Nate auf den Weg zur Toilette. Bevor er den kleinen Raum verließ, zog er die Kette. Hellbraunes Flusswasser füllte die Toilettenschüssel und spülte alles durch ein Rohr unmittelbar in den Fluss.
DREIUNDZWANZIG
Es war noch dunkel, als der Motor verstummte und Nate wach wurde. Er fasste nach dem linken Handgelenk, doch dann fiel ihm ein, dass er keine Uhr trug. Er hörte, wie sich Welly und Jevy weiter unten am Heck bewegten. Sie sprachen leise miteinander.
Er war stolz, dass es ihm gelungen war, einen weiteren Morgen nüchtern zu erleben, einen weiteren Tag. Vor sechs Monaten war jedes Aufwachen mit verquollenen Augen, verworrenen Gedanken, einem brennenden Mund, einer glühenden Zunge, stinkendem Atem und der täglichen Frage verbunden gewesen: »Warum habe ich das nur getan?« Oft hatte er sich in der Dusche übergeben müssen, mitunter hatte er sich einen Finger in den Hals gesteckt, um es hinter sich zu haben.
Stets stand nach dem Duschen die Frage im Raum, wie er den Tag beginnen sollte: mit einem fetten warmen Frühstück, um den Magen zu besänftigen, oder lieber mit einer Bloody Mary, um die Nerven zu beruhigen? Dann war er in die Kanzlei gegangen. Stets hatte er Punkt acht am Schreibtisch gesessen, um einen weiteren harten Tag als Prozessanwalt durchzustehen.
Morgen für Morgen, ohne Ausnahme. Gegen Ende seines letzten Zusammenbruchs hatte er wochenlang keinen Vormittag bei klarem Bewusstsein erlebt. Aus lauter Verzweiflung hatte er eine Beratungsstelle aufgesucht und die Frage, ob er sich erinnern könne, wann er zum letzten Mal einen ganzen Tag nüchtern geblieben war, mit Nein beantworten müssen.
Er vermisste das Trinken, nicht aber die Folgen.
Welly zog das Beiboot auf die Backbordseite der Santa Loura und vertäute es. Sie waren gerade dabei, es zu beladen, als Nate herunterkam. Das Abenteuer trat in eine neue Phase ein. Nate war für einen Szenenwechsel bereit.
Der Himmel war bedeckt. Es sah nach Regen aus. Als die Sonne schließlich durchbrach, war es sechs Uhr. Nate wusste das, weil er seine Armbanduhr wieder angelegt hatte.
Ein Hahn krähte. Sie hatten den Bug ihres Bootes nahe einem kleinen Bauernhof an einem Balken vertäut, der einst einen Anleger getragen hatte. Links, im Westen, mündete ein sehr viel kleinerer Fluss in den Paraguay.
Die Aufgabe
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