Das Teufelsspiel
versuchten herauszubekommen, wer hinter dem geplanten Raubüberfall steckte.
Aber Mr. Rhyme, Amelia und all die anderen – genau wie der Killer und sämtliche erschreckenden Vorfälle der letzten beiden Tage waren im Augenblick vergessen. Geneva hatte derzeit andere Fragen im Kopf: Wie war ihr Vater hergekommen? Und wieso?
Und am wichtigsten war: Was bedeutet das für mich?
Sie wies auf die Einkaufstüte und nahm das Buch von Dr. Seuss.
»Ich lese keine Kinderbücher mehr.« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. »Ich bin vor zwei Monaten sechzehn geworden.« Vermutlich wollte sie ihn an all die Geburtstage erinnern, die sie allein verbracht hatte.
»Ich habe dir diese Bücher bloß besorgt, weil du erkennen solltest, dass ich der Absender bin. Ich weiß, dass du inzwischen zu alt dafür bist.«
»Was ist mit deiner anderen Familie?«, fragte sie kühl.
Jax schüttelte den Kopf. »Ich hab gerade erst erfahren, dass Venus dir das erzählt hat, Genny.«
Es gefiel ihr nicht, dass er den Rufnamen benutzte, den er ihr vor vielen Jahren verpasst hatte. Eine Mischung aus »Geneva« und »Genie«.
»Sie hat sich das ausgedacht. Um mich vor dir schlecht zu machen. Nein, nein, Genny, ich würde dich nie freiwillig im Stich lassen. Ich wurde verhaftet.«
»Verhaftet?«
»Das stimmt, Geneva«, sagte Roland Bell. »Wir haben das überprüft. Er wurde an dem Tag festgenommen, an dem er morgens von eurer gemeinsamen Wohnung aufgebrochen ist. Seitdem hat er im Gefängnis gesessen und wurde erst vor kurzem entlassen.«
Dann erzählte er ihr die Geschichte von einem Raubüberfall und dem verzweifelten Versuch, an Geld zu kommen, um ihre Not zu lindern und ihrer Mutter zu helfen.
Aber seine Worte wirkten abgestanden und verbraucht. Sie klangen wie eine der unzähligen Ausreden, die man von solchen Leuten ständig zu hören bekam. Der Crackdealer, der Ladendieb, der Sozialhilfebetrüger, der Handtaschenräuber.
Ich hab es nur für dich getan, mein Schatz …
Sie schaute auf das Buch in ihrer Hand. Es war gebraucht. Wem hatte es ursprünglich gehört? Wo steckten die Eltern, die es einst für ihr Kind gekauft hatten? Saßen sie hinter Gittern, arbeiteten sie als Tellerwäscher, fuhren sie einen Lexus, waren sie Neurochirurgen?
Hatte ihr Vater es aus einem Antiquariat gestohlen?
»Ich bin wegen dir wieder hier, Genny. Ich konnte dich nirgendwo finden. Dann hat Betty angerufen und mir von dem Überfall auf dich erzählt … Was ist da gestern passiert? Wer ist hinter dir her? Das hat mir noch niemand gesagt.«
»Ich habe etwas gesehen«, entgegnete sie lediglich, um möglichst keine Informationen preiszugeben. »Es könnte jemand bei einer Straftat gewesen sein.« Geneva wollte das Thema wechseln und sah ihn herausfordernd an. »Du weißt, dass Mutter tot ist«, sagte sie gefühlloser als beabsichtigt.
Er nickte. »Bis ich hergekommen bin, wusste ich es nicht. Dann hab ich’s erfahren. Aber es hat mich nicht überrascht. Sie hatte viele Probleme. Vielleicht ist sie jetzt glücklicher.«
Geneva war anderer Ansicht. Jedenfalls würde kein noch so schönes Himmelreich wieder wettmachen können, wie elend es gewesen sein musste, auf diese Weise zu sterben: ganz allein, abgemagert bis auf die Knochen, mit aufgedunsenem Gesicht.
Und auch die Qualen davor würde es nicht aufwiegen – wenn sie sich für ein paar Krümel Crack in irgendeinem Treppenhaus vögeln lassen musste, während ihre Tochter draußen vor der Tür wartete.
Aber Geneva behielt ihre Meinung für sich.
Er lächelte. »Du wohnst wirklich in einem sehr hübschen Haus.«
»Das war nur vorübergehend. Ich wohne da nicht mehr.«
»Nicht? Wo denn sonst?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Sie bedauerte die Worte noch im selben Moment, denn er bekam auf diese Weise einen Fuß in die Tür. Und nutzte sofort seine Chance: »Ich werde meinen Bewährungshelfer noch einmal fragen, ob ich hierhin umziehen darf. Sobald er erfährt, dass ich mich um meine Familie kümmern muss, ist er vielleicht einverstanden.«
»Du hast hier keine Familie. Nicht mehr.«
»Ich weiß, dass du wütend bist, mein Schatz. Aber ich mache alles wieder gut. Ich …«
Sie warf das Buch zu Boden. »Sechs Jahre – und nichts. Kein Wort. Kein Anruf. Kein Brief.« Vor lauter Zorn stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit zitternder Hand weg.
»Und wohin sollte ich schreiben?«, flüsterte er. »Wo sollte ich anrufen? Ich habe mich während der ganzen sechs Jahre immer wieder
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