Das Teufelsspiel
galt als normal. Die Psychologen hier in der Schule redeten viel von Vergewaltigungen und darüber, nein zu sagen und einen zu aufdringlichen Jungen in seine Schranken zu weisen. Oder was man tun konnte, nachdem es passiert war.
Aber sie sprachen nie davon, wie man sich gegen einen Missbrauch der intellektuellen Fähigkeiten wehrte.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Sie biss die Zähne zusammen, wischte sich die Tränen aus den Augen und schüttelte sie sich von den Fingern. Vergiss ihn! Er ist ein blödes Arschloch. Der Mathetest – nur der war jetzt wichtig.
Die Ableitung von x hoch n ist gleich …
Links von ihr bewegte sich etwas. Geneva wandte den Kopf, kniff in der Sonne die Augen zusammen und sah eine Gestalt auf der anderen Straßenseite, im Schatten eines Wohnhauses. Es war ein Mann mit schwarzem Kopftuch und dunkelgrüner Jacke. Er hatte den Schulhof angesteuert, war dann aber hinter einem großen Lastwagen verschwunden. Im ersten Moment fürchtete sie, der Kerl aus der Bibliothek sei wieder da. Aber nein, dieser Typ hier war schwarz. Sie atmete durch und sah auf die Uhr. Du musst zurück.
Nur dass …
Verzweifelt dachte sie daran, wie man sie anstarren würde. Die zornigen Blicke von Kevins Freunden. Das höhnische Grinsen der anderen Mädchen.
Auf den Boden mit ihr, zeigt’s dem Miststück …
Vergiss sie. Wen kümmert es, was die denken? Nur der Test zählt.
Die Ableitung von x hoch n ist gleich n x hoch n minus eins …
Während sie auf die Tür zuging, fragte sie sich, ob man Kevin vom Unterricht suspendieren würde. Oder ihn vielleicht sogar der Schule verwies. Sie hoffte es sehr.
Die Ableitung …
Da hörte sie scharrende Schritte aus Richtung der Straße. Geneva blieb stehen und drehte sich um. Im grellen Sonnenschein konnte sie kaum etwas erkennen. Kam da etwa dieser Farbige mit der grünen Jacke?
Die Schritte hielten inne. Geneva ging weiter und schob alle Gedanken beiseite, außer den an die Potenzregel der Differenzialrechnung.
… ist gleich n x hoch n minus eins …
In diesem Moment hörte sie wieder Schritte, diesmal viel schneller. Jemand lief genau auf sie zu. Sie konnte nichts sehen. Wer war das? Sie hob eine Hand an die Stirn, um das Sonnenlicht abzuschirmen.
»Geneva!«, rief Detective Bells Stimme. »Bleib da!«
Er und noch jemand – Officer Pulaski – rannten zu ihr. »Was ist denn los? Warum bist du nach draußen gegangen?«
»Ich wollte …«
Auf der Straße kamen mit quietschenden Reifen drei Polizeiwagen zum Stehen. Detective Bell schaute angestrengt zu dem großen Lastwagen. »Pulaski! Das muss er sein. Los, hinterher!«
Er meinte den Mann mit der grünen Jacke, den Geneva kurz zuvor schon bemerkt hatte. Der Fremde lief hastig in eine Gasse. Er hinkte ein wenig.
»Bin schon dabei.« Der Officer sprintete los, quetschte sich durch das Tor und verschwand ebenfalls in der Gasse. Dann tauchte ein halbes Dutzend Polizisten auf dem Schulhof auf und schirmte Geneva und den Detective ab.
»Was soll das alles?«, fragte sie.
Während Detective Bell sie in Richtung der Wagen drängte, erklärte er, dass ein FBI-Agent namens Dellray, der mit Mr. Rhyme zusammenarbeitete, ihnen kürzlich eine Warnung übermittelt hatte. Einer seiner Informanten hatte ihm berichtet, ein Mann habe sich an jenem Vormittag in Harlem nach Genevas Schule und Adresse umgehört. Er sei Afroamerikaner und mit einer dunkelgrünen Armeejacke bekleidet, habe vor einigen Jahren unter Mordverdacht gestanden und trüge derzeit eine Schusswaffe bei sich. Da der Täter aus dem Museum ein Weißer war und sich daher in Harlem womöglich nicht allzu gut auskannte, hatte er nach Mr. Rhymes Ansicht beschlossen, einen ortskundigen Komplizen hinzuzuziehen.
Nach Erhalt dieser Nachricht hatte Mr. Bell versucht, Geneva aus dem Klassenraum zu holen, und erfahren, dass sie zur Hintertür hinausgeschlichen war. Doch Jonette Monroe, die verdeckte Ermittlerin, hatte sie im Auge behalten und war ihr gefolgt. Von ihr wusste die Polizei, wo Geneva steckte.
Und nun müsse man sie unverzüglich zurück zu Mr. Rhyme bringen, sagte der Detective.
»Aber der Test. Ich …«
»Bis wir diesen Kerl erwischen, gibt es für dich weder Tests noch Unterricht«, fiel Mr. Bell ihr entschieden ins Wort. »Und jetzt komm bitte mit.«
Sie war wütend über Kevins Verrat, wütend über die Tatsache, dass sie in einer solchen Zwangslage steckte. Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Ich muss an diesem Test
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