Das tibetische Orakel
Gefängnis geschickt, sondern an einen anderen Ort. Zwei Monate später kehrte er an seinen Arbeitsplatz zurück, hielt Reden über die Bedrohung durch reaktionäre Kräfte und leitete Kritiksitzungen gegen andere Lehrer.«
Shan dachte schweigend darüber nach. »Sie meinen, die Politoffiziere könnten sich Tenzin vornehmen«, sagte er dann.
»Ich glaube, man wird versuchen, ihn wieder einzugliedern. Ihn neu zu programmieren«, erwiderte Somo. »Vielleicht mit Hilfe von Ärzten. Vielleicht auch mit besonderen Religionstrainern der Schreihälse.«
Ihr sachlicher Tonfall ließ Shan erschaudern. Er erinnerte sich an Genduns Worte in der Einsiedelei, als der Lama seine Sorge um Tenzin zum Ausdruck gebracht hatte. Tenzin würde nach Norden gehen, weil jemand gestorben sei. Gestorben war der Abt von Sangchi, wußte Shan mittlerweile. Doch ganz gleich, wie sehr der Mann sich um ein neues Selbst bemühte, die Regierung würde den alten Abt zurückverlangen, den folgsamen Abt, der bei so vielen Politkampagnen behilflich gewesen war.
Shan sah Somo an. Es war ein dünner Strohhalm, nicht mehr als ein schwacher Hoffnungsschimmer, aber falls man Lokesh und Tenzin nicht in ein Gefängnis gesteckt hatte, war es möglich, sie aufzuspüren und zu retten. Er erhob sich und ließ den Blick über den Abstellplatz schweifen. »Wenn kein Lastwagen zur Fahrt nach Yapchi vorgesehen ist, müssen wir eben einen finden, der nicht vorgesehen ist«, sagte er entschlossen.
Winslow seufzte und stand auf. »Zuerst muß ich irgendwie an den Ort gelangen, wo der Nachschub hingebracht werden sollte«, sagte er und deutete auf die Landkarte in seiner Tasche.
»In den Bergen oberhalb von Yapchi?« fragte Somo. »Bis morgen? Das sind dreihundertfünfzig Kilometer.«
Doch Winslow lief bereits zurück auf die Gebäude zu.
Einige Minuten später folgten sie einer der langen Gassen zwischen den Wohnanhängern und duckten sich in den Schatten, als in der Nähe ein Lastwagen vorbeifuhr, dann noch einmal, weil in niedriger Höhe ein Hubschrauber angeflogen kam. Es war früher Nachmittag, und das Gelände schien verlassen zu sein.
Als Shan die Tür des Anhängers öffnete, den man ihm zugewiesen hatte, brannte im Innern kein Licht; nur ein paar Sonnenstrahlen fielen durch die kleinen hohen Fenster herein. Dennoch sprang jemand von einem der hinteren Betten auf und knöpfte sich hastig das Hemd zu. Es war der aalglatte junge Chinese, der Shan zum Speisesaal gebracht hatte. Hinter ihm im Bett regte sich etwas, und ein schläfriges Gesicht erschien über der Decke. Es gehörte einer jungen, offenbar unbekleideten Frau. Ihr Make-up war verschmiert, und auf dem Boden lag ein einzelner roter Stiefel. Eine der mai xiao nu , die letzte Nacht in der Bar gesessen hatten. Sie richtete sich auf, musterte die Männer überraschend fröhlich und hob langsam das Laken, um ihre Brüste zu bedecken.
Der junge Mann sah Shan nervös an. Dann trat Somo ein, und seine Anspannung verschwand. »Hier ist genug Platz für alle, Kumpel«, sagte er grinsend. Doch als die Tür ins Schloß fiel und auch Winslow hinzukam, verhärtete sich seine Miene.
»Ich brauche ein paar Klamotten«, sagte Shan.
»Niemand hat dein Zeug angerührt.«
Der Mann deutete auf Shans Bett.
»Ich hatte nichts dabei«, sagte Shan und registrierte zum erstenmal den Schlüsselring am Gürtel des Chinesen. Vielleicht war er so eine Art Abschnittsbeauftragter.
»Dann wende dich an die Versorgungsstelle«, sagte der Mann. »Die liegt.«
Er wurde durch das schrille Jaulen einer Sirene unterbrochen. »Der Krankenwagen nach Golmud«, sagte er wissend.
»Wer wurde verletzt?« fragte Shan.
»Der Lagerverwalter ist gestürzt und hat sich beide Arme gebrochen.«
Er wirkte nun mißtrauisch. »Manche Leute fordern ihr Schicksal heraus. Sie sagen etwas Falsches, und schlimme Dinge geschehen. Ich rate ihnen, verhaltet euch hier nicht anders, nur weil so viele Ausländer da sind. Es ist hier genau wie im Rest der Welt.«
Shan dachte kurz über die Worte des Mannes nach und warf Winslow einen besorgten Blick zu. Jemand in einer braunen Jacke hatte sich den Lagerverwalter zum Verhör vorgenommen. Vermutlich Zhu persönlich.
»Hier ist etwas Kleidung«, sagte der Chinese nun in neuem, zögerndem Tonfall wie ein geübter Feilscher und wies auf die anderen Betten und die dazwischen stehenden Spinde. »Aber ich bin für diesen Bereich verantwortlich. Es fällt auf mich zurück, wenn. während meiner Abwesenheit Diebe
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