Das tibetische Orakel
in diesem Bezirk am Feudalismus festgehalten haben. Heute beginnt ein neues Leben! Ein neues Zeitalter! Man wird bis nach Peking davon hören!«
Sehnsüchtig schaute er zu dem Mikrofon auf dem Podium. Einer der Weißhemden sprang hinauf, nahm es aus der Halterung und brachte es Khodrak, der abermals auf den Lama-Heiler wies.
Jokar schien keine Notiz davon zu nehmen. Sein Blick war auf den schneebedeckten Gipfel des Bergs Yapchi gerichtet, als könne er dort etwas sehen, das allen anderen verborgen blieb. Auf seinem Gesicht lag ein müdes, aber heiteres und gelassenes Lächeln.
»Das ist ein führendes Mitglied einer der feudalistischsten Institutionen von ganz Tibet, die als gefährliches Instrument der Unterdrückung dient!«
Khodraks Stimme hallte nun durch das ganze Tal, und der Vorsitzende reckte seinen Bettelmönchstab in die Luft, als wolle er die Ausführungen dadurch noch unterstreichen. »Ein Verschwörer aus dem engsten Umkreis des Dalai-Verbrechers persönlich! Ein Agent, der aus Indien hergeschickt wurde, um die neue Ordnung zu untergraben!«
Jemand huschte an Shan vorbei und hielt auf Khodrak zu. Es war Dzopa, und er hatte den Stab ebenfalls erhoben. Khodrak lächelte verächtlich, senkte den Stab und umklammerte ihn mit beiden Händen, so daß das Metallende wie eine Speerspitze auf den dobdob zielte.
Ein Schuß peitschte auf.
Dzopa wurde umgerissen und stürzte ächzend zu Boden. Die Soldaten hinter Lin wirbelten mit erhobenen Waffen herum. Im selben Moment lief Padme an Khodraks Seite, und Winslow verschwand zwischen den tibetischen Arbeitern. Einer der Schreihälse hielt die rauchende Pistole noch immer ausgestreckt. Wütend zeigte Lin auf den Mann, woraufhin der nächstbeste Soldat vorsprang, dem Schreihals die Waffe mit dem Gewehrkolben aus der Hand schlug und seinen Stiefel darauf stellte.
Dzopa hielt sich stöhnend die blutende linke Wade. Lhandro eilte zu ihm und drückte einen Schal auf die Wunde. Jokar ging zwei Schritte auf den dobdob zu und wurde dann von Lepka zurückgehalten, der ihm eine Hand auf die Schulter legte. Tenzin trat vor und kniete sich neben Lhandro und Dzopa. Khodrak verfolgte es mit triumphierendem Lächeln.
Shan sah mehrmals von Lin zu Dzopa. Dann fiel sein Blick auf den Bettelmönchstab in Khodraks Händen.
»Verhaftet sie!« rief Khodrak den Wachen zu. »Ihr habt gesehen, was der Mann mit dem Stab getan hat. Jetzt zeigt sich auch sein Begleiter, der Kerl mit der chig! Und der Han, der mit ihnen unter einer Decke steckt!«
Er deutete auf Shan. »Verhaftet sie alle! Es sind Verräter! Mörder!«
Chig. Shan war verwirrt. Chig hieß Eins. Er schaute zu Lhandro, der immer noch neben Tenzin kniete. Die einfachste und älteste Art, in tibetischer Schrift die Ziffer Eins darzustellen, war ein umgedrehtes, leicht nach rechts geneigtes U. So wie das Muttermal auf Lhandros Hals. Shan sah von Khodrak zu Lhandro. Der Kerl mit der chig.
Er bemerkte, daß Tenzin etwas mit dem Finger auf den Boden zeichnete. Eine gerundete Form, die der arabischen Zahl Drei glich, aber ein Stück nach links gekippt, und der untere Strich lief wie ein Schwanzende nach hinten aus. Shan kannte diese Form gut, denn sie entsprach der doppelt geschwungenen Narbe auf Draktes Stirn. Auf tibetisch hieß dieses Symbol nyasha. Fisch. Der Vorsitzende hatte einst nach einem Mann mit einem Fisch gesucht.
Als Khodrak die Zeichnung im Staub sah, verschwand sein Lächeln, und er kehrte Tenzin und Dzopa den Rücken zu. »Mörder!« rief er erneut. »Ergreift sie!«
»Mörder?« fragte jemand laut hinter Khodrak. Mehrere der Funktionäre waren bis zum Rand der Plattform vorgetreten. Einer von ihnen, ein schlanker älterer Mann mit grauer Uniform, musterte den Vorsitzenden von Norbu gompa verwirrt. »Sie ordnen eine Verhaftung an?«
»Für den Mord an einem Mitarbeiter des Büros für Religiöse Angelegenheiten in Amdo.«
Die Erklärung kam Khodrak nur zögernd über die Lippen. »Es wird geschrieben stehen, daß er ein Held war, der für unsere aufrechte Sache gestorben ist. Er hat sein Leben für die Klarheitskampagne geopfert und stand beispielhaft für die Art, wie Norbu die neue Ordnung durchsetzt.«
Es wird geschrieben stehen. Khodrak hatte Lügen zu Papier gebracht, um seine neue Machtposition zu erlangen. Drakte hatte die Wahrheit niedergeschrieben, um ihn aufzuhalten, und war dafür gestorben. Shan spürte, daß er sich vorwärts bewegte, und auf einmal stand er zwischen Khodrak und der Plattform.
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