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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Khodrak funkelte ihn wütend an und drohte mit dem Stab in seine Richtung. Shan starrte die Spitze des Stabs an.
    »Ich kenne den Helden, der sein Leben für die Wahrheit gegeben hat«, behauptete er.
    Der Lastwagen, der Larkin und die Tibeter eskortierte, hupte plötzlich laut wie zur Feier des Siegs, und die Leute auf der Plattform wandten ihre Aufmerksamkeit der Kolonne der Gefangenen zu. Nur Khodrak und Shan sahen einander unbeirrt in die Augen, bis Khodrak jäh den Stab senkte und ausholte. Shan spürte schon das kalte Metall auf dem Bauch, als eine Hand vorschoß, das Ende des Stabs packte und es wegstieß. Professor Ma hatte in letzter Sekunde eingegriffen. Das Hupen hörte auf, Khodrak zog den Stab mit zufriedener Miene zurück und ging um Shan und Ma herum.
    Seltsam ungerührt schauten sie dem Mann hinterher. Als Shan sich dann zur Seite wandte, sah er, daß Ma die Hand anstarrte, mit der er den Stab gepackt hatte. Die Handfläche des Professors war aufgeschlitzt worden, und von seinen Fingerspitzen tropfte Blut zu Boden.
    Die alten Tibeter erzählten, daß Augenblicke der Erleuchtung von Geräuschen begleitet seien, nicht von menschlichen Worten, sondern von Lauten, die der Geist unwillkürlich von sich gab, sobald er mit den Göttern in Kontakt trat. Der Ton, der in diesem Moment aus Shans Mund drang, war vielleicht ein solcher Widerhall der Erkenntnis, eine merkwürdige Mischung aus Stöhnen, überraschtem Keuchen und Schmerzensschrei.
    Der Professor schien die eigene Verletzung zu vergessen und sah ihn besorgt an. »Sind Sie krank?« fragte er.
    Ja, wollte Shan erwidern. Ich leide an der Wahrheit, an dem erdrückenden Wissen, was Pekings Besatzungsjahre aus uns allen gemacht haben.
    Doch statt dessen erklang eine laute, ruhige Stimme. »Einen Yak«, sagte sie ernst. »Nur einen Yak. Lamtso Gar hat einen Yak.«
    Shan wollte sich schon suchend umschauen, doch dann wurde ihm klar, daß es seine eigene Stimme war. »Achtzehn Schafe. Fünf Ziegen«, sagte er und mußte daran denken, wie die Frau am See stolz auf den entsprechenden Eintrag gezeigt hatte. »Und zwei Hunde.«
    Khodrak blieb stehen. Sein Gesicht wechselte die Farbe, wurde erst blaß, dann zornesrot. Der Vorsitzende von Norbu stand plötzlich wieder vor Shan, schwang den Stab und hieb ihm diesmal das untere Ende in den Leib. Shan sackte auf die Knie, hielt sich den Bauch und rang nach Luft, doch sein Blick war auch weiterhin auf die Plattform gerichtet und schwenkte dann von den Ehrengästen über die Tibeter zu den Soldaten, als würde er alle gleichzeitig ansprechen wollen.
    »Letztes Jahr«, rief Shan keuchend den Funktionären zu, »ist dort ein kleines Kind verhungert.«
    »Feigling!« knurrte Khodrak. »Wir sind die Vorreiter der neuen Ordnung. Wir sind hergekommen, um gefeiert zu werden.«
    Er drehte sich um. »Tuan!« rief er, und der Direktor tauchte auf, gefolgt von vier Weißhemden, die sich offenbar mit Freuden auf Shan stürzen wollten. Doch dann zog Shan ein Stück Papier aus der Tasche und faltete es auseinander: das Foto von dem Landhaus am See, das er aus Tuans Büro mitgenommen hatte. Er streckte es wie eine Waffe aus. Tuan blieb drei Meter vor ihm stehen und erbleichte.
    Lin stieß einen barschen Befehl aus, woraufhin Soldaten sich neben die Weißhemden stellten und ihnen den Weg versperrten. Der Oberst ging damit kein persönliches Risiko ein, dachte Shan. Er gestattete Shan lediglich, sich vor den hohen Funktionären selbst ans Messer zu liefern.
    Im Gegensatz zu Khodrak wußte Shan genau, an wen er sich wenden wollte. Er rappelte sich auf und trat dichter vor die Plattform, während Khodraks wütender Blick erst ihn und dann Lin durchbohrte. »Die Bevölkerung des Bezirks hat eigene Wirtschaftsdaten gesammelt. Daten, die auf der Wahrheit basieren. Das Volk muß auch eine Stimme besitzen. Als man versucht hat, diesen Bericht dem stellvertretenden Direktor Chao in Amdo zu übergeben, hat Khodrak erst Chao und dann den tibetischen Boten ermordet.«
    Es mochte unglaublich scheinen, aber Shan wußte, daß er nur vor diesem Publikum die nötige Aufmerksamkeit erhalten würde, einem Publikum, das aus Soldaten bestand, die den Kriechern mißtrauten, Schreihälsen, die den Kriechern mißtrauten, und Kriechern, die allen mißtrauten; einem Publikum, in dem die, die nicht aus Lhasa stammten oder zum Ministerium gehörten, genau diese Leute fürchteten, und die seine Ausführungen zulassen würden, weil sie die Sprache der Bezichtigungen

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