Das Tibetprojekt
Li Mai. »Ihnen sollte klar sein, dass Ihre Aktion zum Scheitern verurteilt ist. Wir sind vermutlich
die einzigen, die das noch verhindern können.«
»Also gut ...« Der Kardinal biss sich auf die Lippen.
»Aber eins müssen Sie zunächst wissen. Der Tempel des Schreckens wird von den Tibetern Gokang genannt.«
|334| »Wissen wir. Aber was ist ein Gokang?«
»Ein Gokang existierte früher in mehreren buddhistischen Klöstern. Tief unter der Erde. Und nur der Großlama wusste von seiner
Existenz und Bedeutung. Niemand außer ihm durfte dort hinein. Im Gokang lebt die dunkle Seite der tibetischen Seele weiter.
Alles, was nicht zum leuchtenden Trugbild des Buddhismus passte, wurde hierhin verbannt. Die Vergangenheit eines Volkes, das
einst nur aus blutrünstigen Kriegern bestand. Es ist ein Verlies für die grausamsten Schöpfungen, die jemals auf Gottes Erdboden
ersonnen wurden. Ausdruck für die archaischen Kräfte der Vernichtung. Die urzeitliche Bedrohung für Zivilisation und Leben.
Was genau alles in diesem Gokang lagert, übersteigt jede biblische Vorstellungskraft. Es sind Ausgeburten und Manifestationen
der abscheulichsten Abgründe und Perversionen des Menschen. Aber die Wirkung ist bekannt. Wenn sie damit unvorbereitet konfrontiert
würden, dann würde es in Ihrem Innern unbewusste Prozesse auslösen, die Sie den Verstand verlieren lassen. Ein Gokang ist
eine seelische Folterkammer, die jeden zerbricht, der ihn betritt. Er besitzt die Macht, einen Menschen in ein rohes Triebwesen
zu verwandeln. Sie würden als Wahnsinniger den Raum verlassen. Als gefährlicher Psychopat. Als unkontrollierbarer Unmensch.
Als Schänder und Bestie.«
Decker erschauerte. Das also hatte der Schamane mit Waffe gemeint. Ein seelischer Umformer.
Das dürfte Hitler gut gefallen haben. Und der General mit dem Militärgeheimnis lag auch richtig.
»Aber wurden diese Orte des Schreckens nicht alle zerstört?«
»Nicht alle. Den größten und übelsten gibt es noch immer.« Giallo stammelte und schien Mühe zu haben, seine Gedanken zu ordnen.
|335| »Unmöglich«, sagte Li Mai. »Es existieren doch nur noch Neubauten, die unter chinesischer Aufsicht entstanden. Da gibt es
keine geheimen Räume mehr.«
Der Kardinal flüsterte nur noch: »Sie haben bei Ihrer Suche ein Kloster übersehen. Das älteste, wichtigste und größte von
allen.«
»Das kann nicht sein, uns sind alle historischen Klöster bekannt. Ganden, Sera und wie sie alle heißen. Sie wurden ausnahmslos
nach der Invasion durchsucht und unter Kontrolle gebracht«, sagte Li Mai.
»Eins nicht.«
»Dann wüssten wir es.«
»Sie finden es nur deshalb nicht, weil Sie es nicht gewohnt sind, es als Kloster zu betrachten.«
»Sondern?«
»Als Regierungssitz.«
»Sie meinen doch nicht etwa ...«
»Natürlich ... den Potala Palast.«
»Aber das ist doch wirklich ein Staatsgebäude.«
»Ja. Aber ein Staatsgebäude in einem Gottesstaat. Daher ist der Potala auch ein Kloster.«
Decker war fassungslos. Die ganze Zeit sollten sie das Ziel gesehen und ahnungslos drum herumgelaufen sein?
»Dort hat der Professor den Gokang gesucht und gefunden«, ergänzte der Kardinal. »Wo sonst sollte es denn noch einen alten
Tempel des Schreckens geben? Es wurden ja wirklich, wie Sie sagen, alle anderen zerstört. Es gab auch schon einmal Pläne,
den Palast und den ganzen Berg in die Luft zu sprengen. Wir hatten sehr gehofft, dass es dazu kommt. Aber dann hat man es
nicht getan. Warum ist unklar. Offiziell heißt es, es sei auf Betreiben der UNESCO verhindert worden. Angeblich handelt es |336| sich ja um ein Weltkulturerbe.« Der Kardinal lachte bitter.
»Aber ich habe gelesen, dass der ganze Palast mehrmals vollständig abgebrannt ist«, warf Decker ein.
»Ja. Die Tibeter glauben, es war Blitzschlag oder die Wirren der vielen Kriege. Professor Weinberg allerdings hat vermutet,
dass es die Buddhisten selbst waren, die auf diese Weise die wichtigste Kultstätte des Bön aus der Welt schaffen wollten.«
»Warum auch immer, dann kann dort aber nichts mehr vorhanden sein.«
»Doch. Ein Teil blieb in all den Kriegen und Zerstörungen der Jahrhunderte hindurch unversehrt. Die Grabkammern von Weng Chen
und von Schrongtsam Gampo. Sie liegen tief unter der Erde.«
»Da haben Sie recht. Aber sie sind öffentlich zugänglich. Dort ziehen jeden Tag Tausende von Pilgern vorbei. Glauben Sie,
wir würden das zulassen, wenn dort etwas versteckt
Weitere Kostenlose Bücher