Das Tibetprojekt
Schande, dass ihr Glauben in Tibet so verunstaltet wurde. Aber ich denke, es
war kein Manichäer und auch kein einzelner Mönch, der auf eigene Faust losgezogen ist. Das wäre zu unwahrscheinlich. Der Kardinal
wollte damit eine falsche Fährte legen. Er hat zwar gestanden, dass Missionare da waren und dass es Dokumente darüber gibt.
Ich glaube aber, er verschweigt die wirklichen Hintergründe.«
»Ja, und welche wären das dann?«, fragte Li Mai. Gleichzeitig brachte sie den Helikopter über einem tiefen schwarzen Tal in
den Sturzflug und fing ihn erst kurz über einem zugefrorenen Fluss ab, dessen Verlauf sie folgte. Decker schnappte nach Luft.
»Man könnte sich vorstellen«, sagte er, »dass der Vatikan ab dem 13. Jahrhundert gezielt Missionare, vielleicht |343| aber auch Attentäter mit Geheimauftrag zu den Mongolen geschickt hat. Eine Art Kommandounternehmen wie in unserem Fall heute.«
»Wie kommst du denn darauf?«
Decker fragte sich, ob schonmal jemand den Grand Canyon nachts durchflogen hatte und ob derjenige noch lebte. »Li Mai, überleg
doch mal, was damals in Europa los war. Vergegenwärtige dir einfach kurz die politische und religiöse Großwetterlage. Es ist
tiefes Mittelalter. Aberglauben und Mystik beherrschen die Menschen. Religiöser Wahn schreibt Geschichte. Es gibt nur Gott
und Krieg. Die Kreuzzüge. Die Pest. Die Menschen leben in vielfacher Angst und Schrecken über Jahrhunderte hinweg. Und schließlich
kommen noch die Mongolen und wollen verwirklichen, was Pest und Glaubenskriege nicht vermochten: Europa steht vor dem Untergang.«
»Ah, du denkst wieder an diese berühmte Schlacht von Liegnitz.«
»Ja. Wenn man diese Ereignisse aus der Sicht des Vatikans betrachtet, wird es deutlich, was ich meine. In Rom treffen beängstigende
Nachrichten von einer unbesiegbaren Armee der Finsternis ein. Niemand kann diesen Feind aufhalten. Die christlichen Heere
sind vernichtend geschlagen, Europa liegt den Mongolen wehrlos zu Füßen. Die katholische Kirche muss befürchten, von diesen
Barbaren überrannt und ausgelöscht zu werden. Der Tag des Jüngsten Gerichts scheint zu nahen. Rom erblickt in der Goldenen
Horde die apokalyptischen Reiter. Also, was überlegt der Papst?«
»Wie man den Sieg des Antichrist verhindern kann?«
Decker wagte erneut den Blick aus dem Fenster. Sie waren über einem zugeschneiten Hochplateau. Eine bizarre |344| weiße Märchenlandschaft schimmerte unter ihnen im Mondschein. Li Mai flog zum ersten Mal langsamer, wich behutsam den steil
aufragenden Eissäulen aus. Decker spürte, dass die Maschine am Limit war und sie nach oben kaum noch Spiel hatten. Kein gutes
Gefühl. Er sah besorgt zu Li Mai. »Genau. Er setzt die stärkste Waffe ein, die Europa besitzt: den christlichen Glauben. Er
schickt Missionare los, um an der Quelle des Bösen, sprich in der mongolischen Hauptstadt, die Nächstenliebe zu predigen.
Vermutlich schickt Rom die Missionare in den sicheren Tod, aber ich denke, die Mönche wussten, dass es eine Reise ohne Wiederkehr
war, und wurden freiwillig Märtyrer. Rom versuchte also, die Lehre Jesu wie ein Virus in das System des Bösen einzuschleusen,
um es dadurch von innen heraus zu schwächen und zu verändern. Die Liebe Gottes gegen die Zerstörungskraft des größten Reiches
der Menschheitsgeschichte. David gegen Goliath. Der heroische Kampf des Guten gegen das Böse. Wie dramatisch kann das in ihren
Köpfen damals ausgesehen haben?« Decker starrte gebannt auf die vielen Felsspalten um sie herum. Wenn sie hier notlanden müssten,
wäre es das Aus.
Li Mai war mit der fast instabilen Maschine voll beschäftigt und erst nach einer kleinen Weile, als sie wieder in tiefere
Regionen kamen, sagte sie: »Sie versuchten jedenfalls, nur durch das Wort und den Glauben zu erreichen, was die chinesische
Mauer und die christliche Streitmacht nicht vermochten. Die Rettung ihrer jeweiligen Heimat. Das war doch eigentlich sehr
clever und ehrenhaft vom Vatikan.«
»Stimmt. Es ist nur leider schiefgegangen. Die Tibeter waren schneller. Die Khane werden vor den Augen der christlichen Mönche
plötzlich Buddhisten. Allerdings |345| waren diese Buddhisten leider nicht friedlich, sondern dämonengläubige Krieger. Ich bin sicher, die Missionare Roms in Karakorum
haben all die Schauergeschichten aus Tibet gehört. Die Grausamkeiten, die Kriege. Der Bön. Sie hörten von Kannibalismus, Menschenopfern
und sexuellen
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