Das Tibetprojekt
mit diesem jungen Wissenschaftler gesprochen hatte, musste ihm jemand mächtig Druck gemacht haben. Woodham
fragte sich, was dahinterstecken könnte, fand aber keine naheliegende Antwort.
»Woran erinnern Sie sich denn am meisten?«, fragte Decker vorsichtig.
»Das Schlimmste waren die schrecklichen Strafen«, sagte der Mann in London. »Je nachdem, was der Schuldige verbrochen hatte,
wurde er öffentlich ausgepeitscht und mit glühenden Eisen oder durch Augenausstechen geblendet. Man hackte ihm die Hand oder
Glieder ab, zog ihm bei lebendigem Leib die Haut ab oder er wurde gleich ganz hingerichtet.«
Decker war überrascht. »Steht das nicht im Gegensatz zur buddhistischen Lehre von der Wahrung allen Lebens?«
»Oh, die Herren in Lhasa waren sehr einfallsreich und spitzfindig, wenn es um solche Dinge ging. Die Verurteilten wurden für
ihre Hinrichtung auf das Dach des Potala Palastes gebracht und gezwungen, selbst hinunterzuspringen.«
Decker schaute Li Mai an. Das hätte er sich nicht träumen lassen.
»Ein ähnliches Prinzip galt auch für die örtlichen Metzger«, fuhr Woodham fort.
»Die Buddhisten haben geschlachtet?«
|195| »In rauen Mengen. Das zum Beispiel wurde aber an die wenigen geduldeten ausländischen Bewohner der Stadt delegiert. Die Tibeter
haben sich die Finger nicht schmutzig gemacht und überließen ihnen das Töten der Tiere. Die Lamas haben sich damit herausgeredet,
dass sie ja nur kauften, was dann schon tot war. Und Sklaven hatten sie auch.«
Decker machte sich seine Notizen. »Eine andere Frage. Glauben Sie, dass der Dalai Lama der westlichen Politik Impulse geben
kann?«
»Das halte ich für wenig wahrscheinlich. Überlegen Sie doch mal, was der Dalai Lama repräsentiert!«
Decker hob überrascht die Augenbrauen. »Wieso?«
Sir Reginald grinste grimmig. »Sie und die meisten Anhänger des tibetischen Buddhismus leben in den freiesten und liberalsten
Ländern der Erde, in Amerika, England, der Schweiz. Unsere Staaten sind sicher nicht ideal. Churchill selbst hat sich immer
wieder über unsere Demokratien lustig gemacht. Aber wir haben soziale Systeme, Krankenhäuser, Rechtssicherheit, die Gewaltenteilung,
Menschenrechte, die Trennung von Kirche und Staat. Und allem voran das Wahlrecht. Und was hat der tibetische Buddhismus in
dieser Hinsicht?«
Decker senkte betroffen den Blick.
Ich Idiot.
»Genau: nichts«, sagte Woodham. »Die Tibeter haben im tiefsten feudalistischen Mittelalter gelebt. Die Ämter waren käuflich
oder vererbbar und die Regierung vereinte alle Gewalten bei sich. Von demokratischen Grundwerten keine Spur. Warum also sollten
wir auch nur eine Sekunde auf den Dalai Lama hören? Wollen Sie in so einem Land leben wie Tibet? Versuchen Sie doch mal einen
lebenden Gott abzuwählen, wenn Sie mit seiner Politik unzufrieden sind. Vielleicht sollten sich all die Esoteriker |196| und Romantiker, die Seiner Heiligkeit hinterherrennen, mal überlegen, dass der Dalai Lama ein totalitäres System verkörpert.
Selbst wenn er persönlich ein netter Mensch ist, jedenfalls im Exil: Unter der Knute der Mönche hätten es seine westlichen
Bewunderer wohl keine Woche lang ausgehalten.«
Sir Reginald räusperte sich. »Die Tibeter genießen bei uns heute Freiheiten und Privilegien, die sie in ihrem eigenen Land
niemand gewährt hätten. Oder glauben Sie, es gab Religionsfreiheit in einem Gottesstaat? Und auch heute bei uns im Westen
hat der tibetische Buddhismus nicht das geringste geleistet, um diese Welt besser zu machen. Nichts haben die Tibeter je auf
die Beine gestellt. In keiner staatlichen oder privaten Organisation und in keiner Partei haben sich die tibetischen Buddhisten
jemals als aktive und konstruktive Mitarbeiter hervorgetan.«
Li Mai lachte.
Stimmt.
»Und noch etwas zum Thema Mitgefühl.« Sir Reginald kam jetzt richtig in Fahrt. »Die größten und wichtigsten Hilfsorganisationen
dieser Welt wie UNICEF, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das Rote Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen sind alle
im Westen entstanden. Ich war zwar lange nicht mehr in der Kirche, Dr. Decker, aber eins muss man sagen: Wenn irgendwo eine humanitäre Katastrophe hereinbricht, sind meistens nur Christen vor Ort.
Denken Sie an Caritas. Brot für die Welt. Misereor. SOS Kinderdörfer. Das nenne ich praktische Nächstenliebe. Und was machen
die Tibeter? Haben die auch nur ein einziges Menschenleben jemals gerettet? Haben die von all
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