Das Tibetprojekt
Mai über das Rollfeld kommen sah. Einer der Agenten trat auf sie
zu und sprach mit ihr. Beide warfen einen kurzen Blick hoch zur Kabine. Li Mai nickte, presste die Lippen zusammen und kam
dann die Stufen hoch. Decker beobachtete es und wurde nachdenklich.
Li Mai kam in den Salon. Sie sah ernst aus, gab sich aber locker. »Wie war dein Vormittag?«
»Eher ruhig. Und deiner?«
»Wir hatten in der Stadt was zu erledigen.«
|191| Decker entgingen der Zwischenton und ihre Blicke nicht.
Die Sicherheitsbeamten und sie wussten genau, wo er gewesen war!
Sie hatten vielleicht nur nichts gesagt, um sein Gesicht zu wahren. Wer verstand schon den chinesischen Ehrenkodex so genau.
Decker war verlegen und wollte gerade wieder an die Arbeit gehen, als ihm sein Souvenir einfiel.
»Sag mal, glaubst du an die Wirkung von Glückskeksen?«
»Wieso, bist du etwa abergläubisch?«
»Nein, aber ich dachte, ihr Chinesen seid es.« Li Mai lachte. »Die sogenannten chinesischen Glückskekse wurden im 20. Jahrhundert von einem geschäftstüchtigen Amerikaner erfunden. Außerdem – bei wirklich wichtigen Dingen verlassen wir uns lieber
auf andere Methoden.«
Sie spürte noch den Rückstoß der Wintowka an ihrer Schulter und konnte den Geruch des Schießpulvers an ihrer Abzugshand riechen.
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Tang Wu war zufrieden. Es ging doch nichts über ein gutes und über Generationen gewachsenes Netzwerk. Nur leider war die alte
Garde noch nicht mit moderner Technik vertraut und arbeitete lieber mit persönlichen Kontakten. Und leider war das Lokal nicht
schnell genug zu erreichen gewesen, sonst hätte man den blonden Killer schon hinter Schloss und Riegel.
Das aufgenommene Gespräch war wegen des Krachs im Hintergrund leider kaum zu verstehen. Er würde noch mal Spezialisten dransetzen.
Vielleicht konnten die etwas rausfiltern, aber allzu große Hoffnungen hatte er nicht. Nun war der
Butler
wieder auf seinem Hoheitsgebiet und der Killer unerkannt entkommen. Aber wenigstens wusste er nun mit Gewissheit, wer der
Maulwurf in der deutschen Botschaft war, in welches Lager er gehörte und was sie vorhatten. Vielleicht konnte er das später
ja noch für die Lösung seines Hauptproblems nutzen.
Decker machte sich einen Whisky on the rocks und fragte Li Mai, ob sie auch etwas trinken wolle. Zu seiner Überraschung sagte
sie, ein winziges Schlückchen könne sie durchaus vertragen.
Decker war froh darüber. Er sagte sich, dass er so rasch wie möglich zur Normalität zurückkehren musste. Es |193| wäre nicht gut, wenn er Li Mais Vertrauen jetzt einbüßen würde.
»Sag mal, du wolltest doch den ehemaligen englischen Botschafter in Tibet zu einem Gespräch bitten«, sagte er. »Meinst du,
das könnte klappen?«
»Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Unsere Leute arbeiten dran.« Sie verschwand im hinteren Teil des Flugzeugs, wo sich die Kommunikationszentrale
befand. Kurz darauf kam sie zurück.
»In London ist man jetzt so weit. Die Leitung steht.« Li Mai bat Decker, sich an seinen Bildschirm zu setzen. »Wir haben ihm
schon im Namen der VR China gedankt. Du kannst gleich zum Thema kommen.«
Die Videokonferenz begann. Decker machte es sich in einem der Sessel bequem. Das Bild des alten Mannes erschien in bester
Qualität auf dem großen Plasmabildschirm. Ja, das war Sir Reginald Woodham.
»Exzellenz, ich danke Ihnen vielmals für Ihre Hilfe.« Decker war sehr bewegt. Vor ihm saß der Repräsentant einer untergegangenen
Welt. »Es gibt da eine Reihe von Fragen, die wahrscheinlich keiner besser als Sie beantworten kann.«
»Dann schießen Sie mal los«, sagte sein Gegenüber am anderen Ende der Welt.
»Wie würden Sie die Zustände in Tibet vor dem Einmarsch der Chinesen beschreiben? War es ein glückliches, friedliches Land,
in dem Gerechtigkeit herrschte und jeder inbrünstig gläubig war, so wie man es überall liest?«
Sir Reginald lachte schallend. »Gerechtigkeit in Tibet? Junger Mann, ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber davon
war das Land im Schnee weit entfernt. Tibet war Leviathan, der alles verschlingende Staat.«
|194| »General Chen Xia, den Sie sicher kennen, hat auch ein sehr düsteres Bild gemalt.« Decker schaute auf seine Gesprächsnotizen
mit dem General und fasste einiges davon für den Botschafter kurz zusammen.
Sir Reginald war beeindruckt. »Sie haben ein Gespräch mit dem alten Chen bekommen? Donnerwetter!« Er dachte eine Weile nach.
Wenn der alte General
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