Das Tibetprojekt
noch ehe die chinesische Volksbefreiungsarmee auch nur einen Fuß auf tibetischen Boden gesetzt
hat, war der Widerstand der Tibeter durch Opportunismus, Kollaboration und Verrat bereits auf ein Minimum reduziert. Der Dalai
Lama, die Mönche |200| , die Kampas, die ausgebeuteten Bauern und Sklaven. Jeder glaubte an seinen Vorteil und hielt still.«
»Und das Ausland hat sich für Tibet nicht interessiert.«
»Nein. Wir waren die einzigen, die außenpolitische Interessen an Tibet gehabt haben. Aber als wir Indien 1947 die Unabhängigkeit
geben mussten, hatte sich das erledigt. Weder die UNO noch irgendeine westliche Macht hat sich 1950 noch für Tibet interessiert.
Schließlich zog der Korea-Krieg alle Aufmerksamkeit auf sich. In einem ersten Schritt hat Mao dann die Ostprovinzen besetzt.
Die chinesischen Soldaten kamen in kleinen Gruppen, spielten mit den Kindern, verteilten Geschenke. Sie seien gekommen, um
Straßen zu bauen und Tibet vor den Imperialisten zu schützen, haben sie den Tibetern erzählt. Dann sind sie weitergezogen,
in Richtung Lhasa.«
»Wie haben die Tibeter darauf reagiert?«
»Die Regierung in Lhasa hat sich natürlich gewehrt. Es erging der Marschbefehl an alle verfügbaren Truppen.«
»Moment. Sie sagen das so nebenbei. Aber das möchte ich klarstellen. Es hat niemand über gewaltfreie Konfliktlösung im Sinne
der buddhistischen Lehre nachgedacht?«
»Keine Sekunde.«
»Das heißt, die tibetischen Truppen haben angegriffen? Gewalt mit Gewalt beantwortet?«
»Nun ja, sie hätten es sollen. Aber die chinesische Infiltration war so erfolgreich, dass der tibetische Gouverneur im Einmarschgebiet
an der Grenze vor Ort den Befehl verweigerte und kampflos die Kapitulation seines Landes erklärte.«
|201| »War vielleicht keine schlechte Idee, angesichts der Größe des Feindes«, vermutete Decker.
»Da irren Sie sich. Das ist es, worauf ich hinauswollte. Hier beginnt die Dramatik dieses Krieges. Dieser Gouverneur war von
Lhasa kurz vorher eingesetzt worden. Der alte Amtsinhaber, den sie gerade abgesetzt hatten, der war aus einem anderen Holz
geschnitzt. Er durchschaute das böse Spiel und baute den Widerstand auf. Er überzeugte einige Kampa-Clans davon, mit den regulären
tibetischen Truppen zusammen zu kämpfen. Als sie sahen, dass die Chinesen verwundbar sind, wollten sie ihre Landsleute zum
gemeinsamen Kampf aufrufen. Aber das Schicksal wollte es anders. Es war wie im Kino: Der Bote kam einfach zu spät, die Kapitulation
war schon unterzeichnet.«
»Um Missverständnisse zu vermeiden: Man hätte die Invasion zu diesem Zeitpunkt noch aufhalten können?«
»So ist es vermutlich.«
»Was passierte dann?«
»Mao zwang die Tibeter zur Unterzeichnung des 1 7-Punkte -Abkommens, mit dem Tibet endgültig seinen unabhängigen Status verlor und China sich zur Wahrung von Religion und Kultur bei
den angekündigten Reformen verpflichtete. Die chinesischen Soldaten drangen weiter nach Westen vor, verhielten sich aber in
den besetzten Gebieten äußerst diszipliniert und befolgten genau die Anweisungen Maos. Sie bezahlten jede Tasse Tee, die sie
tranken, ignorierten jede Beleidigung oder Provokation und taten keinem Menschen etwas zuleide. Ihr Auftreten war so vorbildlich,
dass jeder sie für eine Armee der Buddhas hielt, die gekommen waren, um Tibet in Frieden den Fortschritt zu bringen. Vor allem
die von den Mönchen ausgebeuteten Bauern waren natürlich |202| sehr froh. Am 9. September 1951 zog die Volksbefreiungsarmee in die Stadt Lhasa ein.«
»Scheint, als hätte Mao sein Ziel erreicht und Tibet ohne Kampf bezwungen.«
»Zunächst ja. Zur Überraschung der Chinesen fanden ihre revolutionären Ideen in Tibet aber auf Dauer keinen Anklang. Besonders,
als sie den Tibetern zu erklären versuchten, dass Religion Opium fürs Volk sei, stießen sie natürlich auf den erbitterten
Widerstand der tibetischen Mönche.« Der Botschafter lachte. »Mit der Zeit gingen sie dann zu gewaltsamen Indoktrinationsversuchen
über. Mönche und Nonnen wurden aus ihren Klöstern geholt. Man sagte ihnen, sie sollten doch heiraten. Wollte sie gleich an
Ort und Stelle zum Geschlechtsverkehr zwingen. Es war wie zur Zeit Martin Luthers. Gleichzeitig begannen die Chinesen mit
dem Bau von Militärstraßen, ohne die eine weitere und dauerhafte Besetzung von Tibet unmöglich war.«
»Tibet hatte keine Straßen?«
»Nein, sie hatten ja auch keine Autos. Die Chinesen zogen die
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