Das Todeskreuz
werfen, die er eigentlich nie hätte sehen
dürfen.
Montag, 21.20 Uhr
Peter Brandt, Kriminalhauptkommissar in Offenbach,
stand vor dem Mercedes und schaute in den Kofferraum. Ein
paar Scheinwerfer waren von der Spurensicherung aufgebaut
und die Gegend um das Auto weiträumig abgesperrt worden.
Brandt fasste sich mit einer Hand ans Kinn, den Blick unverwandt auf den wie ein Embryo vor ihm liegenden nackten Körper
gerichtet. Am späten Vormittag, um genau elf Uhr dreiundzwanzig,
war die Vermisstenmeldung eingegangen, vor zwanzig Minuten
hatte eine Streife das Auto auf dem abgelegenen Waldparkplatz
ausfindig gemacht. Noch vor einer halben Stunde hatte
Brandt gemütlich in seinem Sessel gesessen und eine Flasche
Bier getrunken, als der Anruf kam. Er hatte nur »Scheiße« gemurmelt,
war aufgestanden und zur Toilette gegangen, hatte sich
die Hände und das Gesicht gewaschen, sich gekämmt und angezogen.
Sarah, seine mittlerweile sechzehnjährige Tochter, war
noch bei einer Freundin, hatte aber versprochen, um spätestens
zweiundzwanzig Uhr zu Hause zu sein, während seine andere
Tochter Michelle auf ihrem Zimmer war, am Computer saß und
sich in einem Chatroom aufhielt. Mit jedem Jahr, das sie älter
wurden, meinte er um mindestens fünf Jahre zu altern. Er klopfte
an Michelles Tür, trat ein und sagte, dass er einen Einsatz habe.
Sie solle nicht mehr so lange machen, morgen sei Schule. Es waren
fast die gleichen Worte wie jeden Abend, das Wochenende
ausgenommen.
Brandt hatte sich in seinen Alfa Romeo gesetzt und brauchte etwas
über zehn Minuten bis zu dem Fundort. Er traf ein wenig früher
als Andrea Sievers ein, die einen verschlafenen Eindruck
machte. In letzter Zeit übernachtete sie kaum noch bei ihm. Genau
genommen war es in den vergangenen vier Monaten insgesamt
zweimal gewesen. Kurz nach Weihnachten hatte sie ihm recht
deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mehr Freiraum brauche.
Dabei spürte er, dass es nur eine Ausrede war und sie sich in Wirklichkeit
allmählich von ihm zurückzog, was sich auch darin ausdrückte,
dass sie in letzter Zeit nur noch wenig telefonierten, während
sie sich früher drei-, vier-, ja fünfmal am Tag anriefen. Er hatte
noch immer Gefühle für sie, aber er würde sie niemals zu etwas
drängen, was sie nicht wollte. Und außerdem war sie zwölf Jahre
jünger und sah auch noch jünger aus, als sie war. Und noch jüngere
Männer hofierten sie, scharten sich um sie wie die Bienen um den
Nektar, und er wusste, es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sie
ihm mitteilte, dass die Beziehung zwischen ihr und ihm beendet
war. Das letzte Mal, dass sie bei ihm war, lag über zwei Monate zurück,
und auch da hatte es ihn eine Menge Überredungskunst gekostet,
bis sie schließlich einwilligte.
»Wer ist er?«, fragte sie, als sie neben ihm stand. Kein Hallo,
kein besonderer Blick wie noch vor wenigen Monaten, ein Blick,
der ihm einst bedeutete, wie sehr sie ihn liebte. Doch das schien
immer mehr der Vergangenheit anzugehören, und er würde es
akzeptieren.
»Dr. Bernd Buchmann, Richter hier in Offenbach, der zuletzt
für so eine bescheuerte Gerichtsshow im Fernsehen den Vorsitzenden
Richter gemimt hat. Gilt seit heute Morgen als vermisst.«
»Ein Richter?«, sagte Andrea mit zusammengekniffenen Augen.
»Darf ich mal?«, bat sie einen Beamten der Spurensicherung,
der ihr Platz machte. Sie beugte sich über den Toten und
drehte sich zu Brandt um. »Wir müssen die Kollegen in Frankfurt
verständigen. So 'ne Leiche hatte ich gestern schon mal.«
»Hä?«
»Das Kreuz auf dem Rücken, und ich wette, er hat auch einen
Zettel im Mund.«
»Wer war's in Frankfurt?«
»Eine ehemalige Staatsanwältin, Corinna Sittler. Kennst du
sie?«
»Nee«, antwortete er, um sich gleich darauf zu verbessern.
»Moment, doch, klar, die war irgendwann mal in Darmstadt.«
»Korrekt. Ich weiß zufällig, wer beim K 11 in Frankfurt Bereitschaft
hat.«
»Und?«
»Wir sollten sie herbestellen, am besten auch Frau Durant.«
»Kannst du übernehmen«, grummelte er vor sich hin und
wandte sich ab
.
Andrea Sievers rief erst Kullmer und Seidel an, danach Julia
Durant. Sie erklärte ihr kurz die Situation, während der Fotograf
noch bei der Arbeit war.
»Die Kollegen aus Frankfurt sind gleich hier«, sagte sie zu
Brandt.
»Von mir aus.«
Andrea Sievers erwiderte nichts darauf, sondern widmete sich
dem Toten.
»Was ist das auf seinem
Weitere Kostenlose Bücher