Das Todeswrack
Krachen.
Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie der dicke Schössling sich losriss und nach unten fiel. Sie glaubte, nun würde nichts mehr passieren, aber dann hörte sie weitere Sprossen auf dem Bodenaufschlagen. Ein furchtbares Geräusch, denn es ließ darauf schließen, dass der Zwischenfall sich zu einer Katastrophe auswuchs. Eine Kettenreaktion hatte begonnen.
Falls Gamay die Ranken durch ihr Gewicht geschwächt hatte, würde ein leichter Druck ausreichen, um die Halterungen brechen und die Sprossen ins Leere stürzen zu lassen. Das Poltern und Krachen hallte in der Dunkelheit wider. Es wurde immer lauter. Nun war nicht mehr zu überhören, dass die Leiter Sprosse für Sprosse auseinander fiel.
Gamay hielt die Flamme des Feuerzeugs über die Kante.
Vielleicht würde dieser winzige Lichtpunkt Chi zeigen, wie kurz vor dem Ziel er sich befand. Falls er nicht schon längst unter eine m Haufen von Baumstämmen begraben war.
Da hörte sie auf einmal Chis Stimme. Bei all dem Lärm konnte sie nicht erkennen, wie weit der Professor noch von ihr entfernt war.
»Ihre
Hand
!«
Sie streckte den Arm über die Kante aus und redete Chi aufmunternd zu.
Etwas streifte ihre Finger. Sie hatte nicht gewusst, dass er bereits so nah war.
»Halten Sie sich fest!«, schrie sie.
Erneut spürte sie eine Berührung, dann ertasteten die Finger ihr schlankes Handgelenk und schlossen sich darum, während auch sie das andere Handgelenk umfasste. Sie rollte sich zur Seite und nutzte ihren Körper als Hebel, um Chi so weit nach oben zu ziehen, dass er sich mit seiner freien Hand an der Kante festklammern konnte. Aber irgendetwas stimmte nicht.
»Warten Sie!«
Warten? Worauf?
Chi fummelte an etwas herum. Schließlich, nach einigen qualvollen Momenten, in denen sie glaubte, sie würde ihn verlieren, packte Chi mit beiden Händen ihren Unterarm und schwang erst das eine, dann das andere Bein auf festen Untergrund. Aus der Höhle stieg eine dichte Staubwolke empor.
Nach einigen Minuten legte sich der Staub, und sie spähten über den Rand. In der pechschwarzen Öffnung war nichts zu erkennen.
»Nachdem ich ungefähr die Hälfte geschafft hatte, ist die Leiter unter mir zusammengebrochen«, sagte Chi. »Es ging so lange gut, wie ich schneller war als die fallenden Sprossen, aber sie kamen näher. Es fühlte sich an, als würde ich eine abwärts fahrende Rolltreppe hinauf laufen!«
»Warum sollte ich warten?«
Er klopfte auf sein Hemd. »Der Knoten ging auf. Ich habe befürchtet, ich würde das Artefakt verlieren.« Chi schaute verwundert über die Kante. »Leitern sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
Gamay lachte schallend auf. »Nein, ich schätze, Sie haben Recht.«
Ein stetiger kühler Luftstrom strich über sie hinweg. Sie klopften den Staub aus ihrer Kleidung und brachen dann in die Richtung auf, aus der die Luft unverkennbar stammte. Sie folgten einem ausgetretenen Pfad durch einen breiten, gewundenen Tunnel. Die Brise wurde stärker. Das Summen der Insekten wurde lauter. Sie stiegen einige Stufen empor und traten durch eine schmale Öffnung in die feuchte, warme Nacht hinaus.
Gamay atmete mehrmals tief ein und aus, um den Schmutz und den Staub zu vertreiben. Der Mondschein tauchte den alten Stadtplatz mit seinen seltsamen schlummernden Hügeln in ein zinnernes Licht. Chi ging voran. Sie machten sich auf den Weg zu dem Pfad, der sie zurück zu dem Humvee führen würde.
Seit ihrer Ankunft schienen Wochen vergangen zu sein.
Vorsichtig huschten die beiden von Hügel zu Hügel. Sie hatten den Waldrand schon fast erreicht, als sie etwas bemerkten, das wie eine Ansammlung von Glühwürmchen aussah. Allerdings flackerten diese Lichtpunkte nicht. Sie leuchteten gleichmäßig und schwärmten vom zentralen Platz in alle Richtungen aus.
Gamay und Chi begriffen sofort, dass man ihre Flucht entdeckt hatte. Und dass ihre drei Gegenspieler inzwischen Verstärkung erhalten hatten. Sie rannten los.
Eine raue Stimme sprach sie auf Spanisch an, und ein Lichtkegel blendete sie. Dann hörten sie ein schmutziges Lachen. Gamay erkannte sofort, dass ihr alter Freund Gelbzahn vor ihnen stand. Er schien äußerst zufrieden mit sich zu sein.
Langsam ließ er das Licht über Gamays Körper wandern und an einigen Stellen kurz verharren, bevor er die Taschenlampe wieder auf Hüfthöhe hielt. Mit der anderen Hand richtete er die Schrotflinte des Professors auf die beiden Gefangenen. Dann schrie er etwas auf Spanisch, um die Aufmerksamkeit
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