Das Todeswrack
Haufen zerfallender Trümmer auf dem Meeresboden. Mit ihrem charakteristischen Schornsteinkasten und ohne die Deckaufbauten sah die
Andrea Doria
eher nach einer gewaltigen Barkasse als nach einem Schiff aus. Erst als Austin und Zavala an den Überresten des Ruderhauses vorbeiglitten und die dicken Kranbäume, die Laufrollen der Winden und die intakten Poller auf dem Vorderdeck sahen, bekamen sie langsam das Gefühl, dass es sich hierbei tatsächlich um einen großen Passagierdampfer handelte. Es war kaum zu glauben, dass ein so riesige s Schiff jemals sinken könnte, aber das hatte man schließlich auch von der
Titanic
gedacht, rief Austin sich ins Gedächtnis.
Bislang hatten Kurt und Joe sich so ehrerbietig wie Trauergäste bei einer Beerdigung verhalten, aber jetzt durchbrach Austin das Schweigen. »So sehen also dreißig Millionen Dollar aus, nachdem sie ein paar Jahrzehnte auf dem Meeresgrund gelegen haben.«
»Verdammt viel Geld für einen überdimensionalen Fischfänger«, erwiderte Zavala.
»Und so viel hat allein das nackte Schiff gekostet. Die vielen Millionen für die Einrichtung, die künstlerische Gestaltung und die vierhundert Tonnen Fracht sind dabei noch gar nicht eingerechnet. Der Stolz der italienischen Flotte.«
»Ich werde daraus einfach nicht schlau«, sagte Zavala. »Ich weiß, dass damals dichter Nebel geherrscht hat, aber beide Schiffe verfügten über Radar und hatten Leute im Ausguck. Wie konnte es bei all diesen Millionen Quadratmeilen von Ozean passieren, dass sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufgetaucht sind?«
»Reines Pech, schätze ich.«
»Es hat haargenau gepasst. Das hätte man selbst mit Absicht nicht besser hinbekommen.«
»Zweiundfünfzig Tote. Neunundzwanzigtausend Bruttoregistertonnen gesunken. Die
Stockholm
schwer beschädigt.
Millionenwerte an Fracht verloren. Wer sollte so etwas mit Absicht tun?«
»Meinst du, es handelt sich um eines dieser ungelösten Geheimnisse auf See?«
»Hast du eine bessere Theorie?«
»Keine, die irgendeinen Sinn ergibt«, erwiderte Joe mit hörbarem Seufzen. »Wohin jetzt?«
»Schauen wir uns Gimbels Loch mal an.«
Das Minitauchboot drehte anmutig wie ein Mantarochen um und fuhr erneut am Bug vorbei. Dann glitt es langsam ungefähr die Hälfte der Backbordseite entlang, bis es eine gezackte rechteckige Öffnung erreichte. Gimbels Loch.
Der zweieinhalb mal sechs Meter große Durchlass war die Hinterlassenschaft von Peter Gimbel. Weniger als achtundzwanzig Stunden nach dem Untergang der
Doria
tauchten Gimbel und ein weiterer Fotograf namens Joséph Fox zu dem Liner hinunter und erforschten dreizehn Minuten lang das Wrack. Damals erlag Gimbel der Faszination des Schiffs. Im Jahre 1981 führte er eine Expedition an, die mit einer Taucherglocke und besonderen Atemgemischen arbeitete. Die Taucher bahnten sich mit Schneidbrennern einen Weg durch die Türen zum Salon der ersten Klasse, um an einen Safe zu gelangen, der angeblich Wertsachen für mehrere Millionen Dollar enthielt. Mit viel Rummel wurde der Safe dann später vor laufenden Fernsehkameras geöffnet, aber der Inhalt war bloß ein paar hundert Dollar wert.
»Sieht aus wie ein Scheunentor«, spöttelte Zavala.
»Für dieses Scheunentor haben sie damals mit ihren Magnesiumbrennern zwei Wochen gebraucht«, sagte Austin.
»So viel Zeit haben wir nicht.«
»Vielleicht wäre es einfacher, das ganze Ding zu heben. Wenn die NUMA die
Titanic
heben konnte, müsste die
Doria
doch eigentlich ein Kinderspiel darstellen.«
»Du bis t nicht der Erste, der auf diese Idee gekommen ist. Es hat haufenweise Pläne zu ihrer Bergung gegeben. Komprimierte Luft. Heliumgefüllte Ballons. Ein Senkkasten. Plastikkugeln.
Sogar Tischtennisbälle.«
Zavala pfiff anerkennend. »Dieser Tischtennistyp muss ganz schön
cojones
gehabt haben.«
Die Zweideutigkeit des spanischen Worts ließ Austin gequält aufstöhnen. »Mal abgesehen von dieser schlauen Bemerkung, wie lautet nach unserer Besichtigungstour deine Meinung?«
»Ich glaube, uns steht eine Menge Arbeit bevor.«
»Das denke ich auch. Lass uns auftauchen und mit den anderen reden.«
Zavala nickte, gab Gas und hob die Nase des Boots an.
Während sie dank der Kraft der vier Schubdüsen schnell aufstiegen, schaute Austin auf das graue Gespenst hinab, das nun wieder in der Düsternis versank. Irgendwo in diesem gewaltige n Rumpf befand sich der Schlüssel für die bizarre Mordserie. Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, denn Zavala
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