Das Todeswrack
weisen Ratschlag. Der Tunnel war das schönste Artefakt, das sie je gesehen hatte. Schon jetzt war er länger als ein vergleichbarer Durchgang in der versunkenen Stadt Apollonia.
Die glatten Wände hörten unversehens auf und gingen in eine grob behauene Höhle über, die sich – mal schmäler, mal breiter in mehr oder weniger gerader Linie fortsetzte. Hin und wieder zweigten kleinere Gänge ab. In die von Kohlenstoff geschwärzten Wände waren Lampenhalterungen eingelassen.
Die Tunnelbauer hatten die natürliche Höhle mit einer künstlich angelegten verlängert. Nina staunte über das Können und die Zielstrebigkeit der lange toten bronzezeitlichen Baumeister.
Der Tunnel wurde jetzt wieder breiter und wirkte stärker bearbeitet. Nina entdeckte in einiger Entfernung ein grünliches Leuchten und zwängte sich zwischen einem Schuttberg und der Decke hindurch. Sie schwamm auf das Licht zu, das immer heller wurde, je mehr sie sich ihm näherte.
Auf der Suche nach neuen Erkenntnissen war Nina bereits durch dicke Schichten Fledermausguano gekrochen und hatte sich mit übellaunigen Skorpionen auseinander setzen müssen.
Aber so wundersam dieser Tunnel auch sein mochte, sie wollte so schnell wie möglich wieder heraus, und daher seufzte sie erleichtert auf, als die Passage endete. Sie glitt eine Treppe empor, durch einen Bogengang und erreichte eine offene Fläche, die von zerfallenen Fundamenten umgeben war.
Sie setzte sich unter Wasser auf einen hüfthohen Steinblock und grübelte über ihre Entdeckungen nach. Der Hafen war vermutlich ein kombinierter Militär- und Handelsposten, der fremde Kaufleute abschrecken und den kommerziellen Schiffsverkehr überwachen sollte. Ein Knurren drang an ihre Ohren. Die Hunde des Skeptizismus verlangten nach ihrem Nachtmahl harter wissenschaftlicher Fakten. Bevor Nina endgültige Schlüsse zog, musste jeder Quadratmeter des Hafens genau untersucht und ausgewertet werden.
Sie wagte die Annahme, dass der Hafen infolge einer Verschiebung tektonischer Platten versunken war. Vielleicht während des großen Erdbebens im Jahr 10 nach Christus. Beben waren hier nicht so häufig wie in der Mittelmeerregion, aber sie konnten vorkommen.
Knurr.
Ich weiß, ich weiß. Keine Schlussfolgerung, bevor nicht alle Einzelheiten vorlagen. Sie schaute den Blasen ihrer Atemluft hinterher, die senkrecht nach oben stiegen. Vielleicht gab es ja einen schnelleren Weg zur Wahrheit.
Nina verfügte über eine außergewöhnliche und unerklärliche Begabung. Sie hatte nur mit ein paar engen Freunden darüber gesprochen, und das auch stets unter streng wissenschaftlichem Blickwinkel. Sie verglich sich selbst mit einem der Tatortanalytiker des FBI, der den Schauplatz eines Verbrechens deuten kann, als wäre er selbst zugegen gewesen. Daran war nichts Übernatürliches, hatte sie beschlossen. Lediglich eine Mischung aus exzellenten Fachkenntnissen, einem fotografischen Gedächtnis und einer lebhaften Vorstellungskraft. Etwa so, wie ein Rutengänger mit Hilfe eines gegabelten Zweigs Wasseradern aufspüren kann.
Entdeckt hatte sie dieses Talent zufällig auf ihrer ersten Ägyptenreise. Sie hatte ihre Hände gegen einen der riesigen Fundamentblöcke der Cheops-Pyramide gepresst. Es war eine natürliche Geste, ein taktiler Versuch, die Mächtigkeit dieser unglaublichen Anhäufung von Steinen zu begreifen. Doch dann geschah etwas Seltsames und Erschreckendes. Alle ihre Sinne wurden von Bildern überschwemmt. Die Pyramide war nur halb so hoch, und auf der waagrechten obersten Ebene hievten Hunderte von dunkelhäutigen Männern in Lendenschurz mittels primitiver Gerüste Blöcke nach oben. Der Schweiß auf ihrer Haut glitzerte in der Sonne. Nina konnte Rufe hören. Das Quietschen von Flaschenzügen. Sie riss die Hand zurück, als wäre der Stein plötzlich glühend heiß geworden.
»Kamelritt, Missy?«, fragte eine Stimme.
Sie blinzelte verwundert. Die Pyramide erhob sich wieder in voller Größe himmelwärts. Die dunkelhäutigen Männer waren verschwunden. Stattdessen sah sie einen Kameltreiber vor sich.
Mit breitem Grinsen lehnte er auf dem Knauf seines Sattels.
»Kamelritt, Missy? Ich Ihnen mache guten Preis.«
»
Shukran.
Danke. Nicht heute.« Der Mann nickte bekümmert und trottete davon. Nina riss sich zusammen und kehrte ins Hotel zurück, wo sie die Anordnung der Blöcke und Flaschenzüge skizzierte. Später zeigte sie die Zeichnung einem befreundeten Ingenieur. Er musterte die Darstellung eine ganze Weile.
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