Das Todeswrack
parallel zu ihrer ursprünglichen Route zurück, bis sie das Flussbett erreichte.
Vorsichtig spähte sie zwischen den Grashalmen hindurch. Im Wadi war niemand zu sehen. Sie glitt die Böschung hinab und rannte mit gesenktem Kopf auf den Strand zu. Der Boden des Flussbetts war von zahllosen Fußabdrücken aufgewühlt, was darauf hindeutete, dass eine beträchtliche Anzahl Männer sie verfolgte. Schon bald sah sie die blaugrüne See vor sich. Das türkisfarbene Schiff lag noch immer vor der Küste vor Anker.
An der Mündung des ehemaligen Flusses blieb Nina stehen. Der leere Strand lockte wie ein Highway in beide Richtungen.
Hinter ihr erklangen Stimmen und das Knirschen von Schritten. Erneut hatten die Killer sich zu einer auseinander gezogene n Linie formiert, als wären sie Jäger, die ein paar Wachteln aufscheuchen wollten. Falls Nina sich nach links oder rechts wandte, würde man sie sehen. Wie bereits letzte Nacht, so schien auch jetzt das Wasser der einzige Ausweg zu sein.
Nina zog ihr zerrissenes und sandverkrustetes Nachthemd aus und warf es beiseite. Dann lief sie in Mieder und Unterwäsche über den harten, mit Kies versetzten Boden der jahrhundertealten Flussmündung. Sie hoffte, der Dünenkamm würde sie verdecken, bis sie das Meer erreicht hatte. Als sie ins flache Wasser rannte, schrie noch immer niemand auf. Sie wusste, wie verwundbar sie hier war, mitten im Freien, ohne die Dunkelheit oder einen Tunnel, um sich darin zu verstecken. Jede Sekunde würden die Männer die Dünen erklimmen, und dann wäre sie ein einfaches Ziel für ihre Kugeln.
Das knietiefe Wasser über den salzigen Untiefen schien ewig anzudauern. Es verlangsamte ihr Fortkommen, aber es bot ihr keinerlei Schutz. Sie rannte mit Riesenschritten weiter, und endlich reichte das Wasser ihr bis zur Taille. Als sie untertauchte, flogen ihr bereits die ersten Kugeln um die Ohren.
Das Wasser hinter ihr wurde aufgepeitscht. Nina bog zur Seite ab, tauchte so weit sie konnte, holte kurz Luft und tauchte weiter, als wäre sie ein Delfin. Sobald sie das bräunliche Wasser der Untiefen hinter sich gelassen und den tieferen blauen Ozean erreicht hatte, warf sie einen kurzen Blick zurück und erkannte ungefähr ein Dutzend Gestalten am Ufer.
Einige waren ins flache Wasser gewatet. Das Gewehrfeuer schien aufgehört zu haben.
Nina drehte sich um und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Schiff. Sie befürchtete, es könnte den Anker lichten und sie hier in auswegloser Lage zurücklassen. Ein Schwimmausflug zu den Kanarischen Inseln stand eigentlich nicht auf ihrem Programm.
Sie legte sich auf den Rücken, schaute zu den bauschigen Schäfchenwolken empor und sammelte Kraft. Wenigstens war es ein guter Tag zum Schwimmen. Nach einer Minute erklärte sie die Pause für beendet. Sie musste das Blut in ihren Adern wieder auf Touren bringen.
Lass es langsam angehen, mach Pausen, falls nötig, und halt dir dein Glück vor Augen. Eine ruhige See, kein Wind und keine Strömung. Fast so wie die Schwimmdistanz beim Triathlon, mit nur einem kleinen Unterschied: Falls sie die ses Rennen verlor, würde sie sterben. Sie visierte den Hauptmast des Schiffs an und schwamm los.
Ohne ihre Armbanduhr konnte sie kaum einschätzen, wie lange sie schon unterwegs war. Das Wasser verlor bei zunehmender Tiefe immer mehr an Temperatur, und so zählte sie ihre Schwimmzüge, um sich von der kräftezehrenden Kälte abzulenken.
Dem Schiff zu winken wäre reine Zeitverschwendung. Ihr Arm würde wie der Hals eines schwimmenden Seevogels aussehen.
Sie versuchte es mit Matrosenliedern. Die alten Arbeitsgesänge halfen ihr, in gleichmäßigem Rhythmus zu schwimmen.
Ihr Repertoire war ziemlich begrenzt, und nachdem sie zum fünfzigsten Mal »Blow the Man Down« gesungen hatte, schwamm sie einfach wortlos weiter. Sie kam dem Schiff deutlich näher, aber ihre Schwimmzüge wurden kraftloser, und sie musste immer häufiger Pausen einlegen. Einmal drehte sie sich um und stellte befriedigt fest, dass sie den niedrigen braunen Strand bereits weit hinter sich gelassen hatte. Um wieder mehr Mut zu fassen, stellte sie sich vor, wie sie an Bord des Schiffs kletterte und die salzige Trockenheit in ihrem Mund mit einem dampfenden Becher heißen Kaffee hinunterspülte.
Das tiefe brummende Geräusch war so leise, dass sie es im ersten Moment gar nicht bemerkte. Auch als sie anhielt, um angestrengt zu lauschen, hielt Nina es durchaus für möglich, dass ihr der Wasserdruck auf ihren Trommelfellen
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