Das Trauma
bleibt er meistens für sich. Wenn der Lehrer etwas von ihm will, verhält er sich aggressiv. Aufgrund der hohen Fehlzeiten fällt es schwer, den Wissensstand des Jungen zu beurteilen. Hat Probleme mit dem Lesen und dem Schreiben. In der vergangenen Woche war er in eine Schlägerei mit zwei anderen Jungen verwickelt. Einer der Jungen wurde so schwer im Gesicht verletzt, dass er ein Krankenhaus aufsuchen musste. Die Eltern wurden informiert und berichteten, dass die anderen Jungen ihren Sohn schon seit Langem mobben und dass der Konflikt dadurch ausgelöst wurde, dass die Jungen dem Sohn vor einigen Mädchen in der Klasse Hose und Unterhose ausgezogen hätten, was die anderen Jungen aber bestreiten. Die Eltern wollen, dass die Schule das Mobbingproblem aufgreift. Kein Lehrer an der Schule hat Mobbing beobachtet, sie erleben den Jungen eher als Einzelgänger, aber das Mobbingteam soll der Sache trotzdem auf den Grund gehen. Wir raten den Eltern außerdem, für ihren Sohn beim Jugendamt psychiatrische Betreuung zu beantragen.
Siv Hallin, Schulpsychologin
Dunkelheit umschließt die Praxis.
Die Fenster sind blank, schwarz.
Das Einzige, was zu sehen ist, sind die Spiegelbilder aus dem Zimmer, in dem wir uns befinden. Die Perspektive ist verzerrt, aber ich sehe die Stühle, die um den runden Besprechungstisch stehen. Die Silhouetten der Menschen, die daran sitzen. Stille liegt über dem Zimmer. Kein Geplauder, kein Lachen. Das ganze Zimmer scheint den Atem anzuhalten, zu warten, auszuharren. Ich blinzele und versuche, Kraft zu sammeln, um mit der Arbeit zu beginnen und die Gruppe durch eine weitere Sitzung zu lotsen. Ich höre, wie Aina sich räuspert, und schaue zu ihr hinüber.
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie das, was vorige Woche geschehen ist, sehr beschäftigt hat. Es ist schrecklich, wenn die Gewalt so nah an einen heranrückt. Ich glaube, es war gut, dass wir uns im Pelikan getroffen haben, um ein wenig zu reden. Hillevi, es war schade, dass Sie nicht dabei sein konnten.«
Aina ist ruhig und gefasst. In ihrem weiten gestrickten Pullover und den verschlissenen Jeans sieht sie aus wie ein Schulmädchen, das Papas Kleider angezogen hat, aber sie spricht mit selbstverständlicher Autorität, und die Spannung im Raum scheint fast sofort nachzulassen. Ich bin ihr so dankbar, für ihre Sicherheit und Gelassenheit. Ihre Fähigkeit, das Kommando zu ergreifen.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, Aina, aber ich habe mir so meine Gedanken gemacht und muss einfach eine Frage stellen.« Kattis’ Wangen haben sich hellrosa verfärbt, und sie breitet die Hände aus, wie um ihren Worten Gewicht zu verleihen. »Ich verstehe das einfach nicht. Henrik hat diese … Susanne umgebracht, aber die Polizei unternimmt nichts. Warum nehmen sie ihn nicht fest, stecken ihn in den Knast? Das ist einfach unfassbar.«
Ihre Stimme versagt, wird zu einem heiseren Flüstern.
»Woher wissen Sie, dass die Polizei nichts unternimmt?« Malin schaut Kattis aufmerksam an.
»Woher ich das weiß? Ja, ich kann ja lesen, zum Beispiel. Es ist doch wohl ziemlich klar, dass die Polizei noch niemanden festgenommen hat. Das hätte dann doch in der Zeitung gestanden«, Kattis schwenkt eine mitgebrachte Gratiszeitung. »Außerdem habe ich gestern Henrik mitten in Gustavsberg gesehen. Er hat im Supermarkt Frikadellen gekauft, wie jeder normale Schwede. Ich begreife nicht, wie das möglich ist.« Sie schaut sich verzweifelt um, sucht Unterstützung oder vielleicht nur Mitgefühl. Ihr Blick fängt meinen ein, und ich versuche, ein Gefühl von Verständnis und Sympathie zu vermitteln, was nicht schwer ist. Ich bin ja schließlich auch empört.
»Sie hat es vielleicht nicht besser verdient«, murmelt Malin. Und für eine Weile wird es ganz stumm und still im Raum, während wir zu verarbeiten versuchen, was sie gerade gesagt hat.
Kattis’ Blick trifft Malins, und für einen kurzen Moment funkelt etwas in ihren Augen: Zweifel, Überraschung und vielleicht Abscheu. Sirkka sitzt stumm da, mit offenem Mund, als wollte sie etwas sagen, doch kein Wort kommt über ihre Lippen.
»Aber was sagen Sie da?«, flüstert Aina, und zum ersten Mal in einer professionellen Situation scheint sie die Fassung verloren zu haben. Aina, die immer so beherrscht ist, immer auf alle Fragen eine Antwort hat, instinktiv weiß, wie sie mit einer schwierigen Situation umzugehen hat.
»Entschuldigung, das war nicht so gemeint«, murmelt Malin.
Keine kann etwas sagen.
»Es
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