Das Traumtor (German Edition)
Er wird nur bestraft, aber nicht ehrlos. Also verweigere ihm diese Ehre nicht!“
Seltsame Ehrbegriffe hatten diese Menschen! Aber so blieb mir nichts anderes übrig als mitanzusehen, wie das schwere Leder auf Narins ungeschützten Rücken nieder-sauste. Mir drehte sich fast der Magen um und ich stöhnte leise auf, als Narins Haut aufriss und dünne Blutfäden an seinen Seiten herab liefen. Mit zusammengebissenen Zähnen ertrug Narins die Tortur, ohne einen Laut von sich zu geben. Doch beim vier-zehnten Hieb sackte er in seinen Fesseln zusammen. Als der Henker ihn mit einem Guss Wasser wieder zur Besinnung bringen wollte, um auch noch die restliche Strafe für Narin fühlbar vollziehen zu können, war bei mir das Maß voll.
„Halt!“ rief ich laut, und die Gesichter aller wandten sich mir zu. Ich blickte Rowin an und sagte so, daß jeder mich verstehen konnte: „König Rowin, ich bitte Euch um die Gnade, mir die restliche Strafe dieses Mannes zu schenken, denn er hat mir treu gedient und ich fand keinen Fehl an ihm. Darum bitte ich Euch, erlaßt ihm die fehlenden Hiebe um meinetwillen!“
Im Hof hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Alle starrten mich an, und auch Rowin war zuerst völlig überrascht. Hatte ich etwas getan, was den Sitten widersprach und ungehörig war? Aber das war mir jetzt egal. Ich hätte nicht mehr mit ansehen können, daß man Narin so schwer misshandelte, weil er einem wohl auch nicht so ganz friedlichen Bürger Varnhags das Nasenbein gebrochen hatte. Niemand hatte danach gefragt, ob Narin nicht vielleicht provoziert worden war. Dieser Mann hatte das Gesetz der Garde verletzt, aber darum war er noch lange kein Verbrecher. Ich sah Rowin an, daß ich ihn in Verlegenheit gebracht hatte und er zuerst nicht wußte, was er tun sollte. Mit einem etwas bangen Gefühl wartete ich auf seine Reaktion. Würde er jetzt wütend auf mich sein? Aber da zog ein kleines Lächeln über seine Lippen und er kniff mir ein Auge zu. Dann wandte er sich an den Henker und rief:
„Laß ab von ihm! Das milde Herz der Herrin Athama soll nicht länger bluten! Ich er-lasse Narin den Rest der Strafe. Zwar kann er nie wieder in meiner Leibgarde dienen, doch da die Herrin Athama für in bat, soll ihm die Gnade gewährt werden, ganz in ihre persönlichen Dienste zu treten. Doch ich bestimme auch, daß er sofort das Land zu verlassen hat, läßt er sich noch einmal etwas zuschulden kommen.“
Kaum hatte er geendet, als die gesamte Leibwache im Hochrufe ausbrach, denn Narin war bei seinen Kameraden sehr beliebt.
„Es lebe König Rowin!“ riefen die Leute. „Mögen die Götter die Herrin Athama schützen! Die Herrin Athama soll leben!“
Mit Tränen in den Augen nahm ich die Ovationen der Männer entgegen. Ich wäre Rowin am liebsten vor allen um den Hals gefallen, aber natürlich mußte ich darauf verzichten. So lächelte ich ihm glücklich zu. Mit warmem Druck ergriff er meine Hand und geleitete mich hinein. Kaum hatte sich die Tür des Balkons hinter uns geschlossen, zog er mich in die Arme.
„Athama, du bist eine wundervolle Frau!“ sagte er weich. „Dein Herz hat dir im rechten Moment das Richtige eingegeben. Ich durfte ihm keine Gnade gewähren, aber ich konnte dir ein Geschenk machen. Niemand wird es mir verargen, daß ich der Frau, die ich liebe, eine Bitte erfüllte. Narin ist bestraft worden, wie es das Gesetz vorsieht, und das wird den anderen als Warnung dienen. Aber dein Eintreten für ihn im Augenblick seiner höchsten Not gab mir die Möglichkeit, mich großmütig zu zeigen. Und das wiederum bewirkte, daß ich mir diesen Mann erhalten kann, den ich im Grunde sehr schätze und den ich nur mit dem größten Bedauern diesem Urteil unterzog. So hat deinen einfühlsames Einschreiten uns allen etwas gebracht: dir einen Wächter, der mit Freuden für dich sein Leben geben würde und die Liebe der ganzen Garde, Narin die Gnade, weiterhin bei Hof Dienst tun zu dürfen und mir die Verehrung und den Dank meiner Männer, denen ich durch meinen Gnadenakt einen treuen Gefährten erhalten habe. Ich danke dir dafür, mein Herz, denn durch dich erhielt ich die Möglichkeit, Nachsicht walten zu lassen, wo ich ansonsten hätte unerbittlich sein müssen.“
„Ach, Rowin, du brauchst mir nicht zu danken“, erwiderte ich. „Ich habe nicht viel dazu getan. Ich mußte einfach so handeln, denn ich konnte es nicht mehr ertragen, dieses gräßliche Schauspiel weiter miterleben zu müssen. Ich konnte Narin
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