Das Turmzimmer
fester, als wäre ich ein Hütehund und kein Mensch.
»Ernsthaft, Agnes, du kannst dich doch nicht weiter um die Nächte herumschreiben«, sagte sie. »Hörst du? Die Leser müssen sich doch auch über deine Müdigkeit jeden Morgen wundern.«
Sie beugte sich über mich, sodass ihr Gesicht verkehrt herum vor meinen Augen schwebte.
»Ich bin mir sicher, dass die Leser dir auf lange Sicht verzeihen werden.«
Sie berührte meinen wundesten Punkt: Und das sind Sie, lieber Leser. Ich möchte nicht, dass Sie von mir oder Ambrosius schlecht denken, und ich möchte ganz bestimmt nicht, dass Sie über die Silhouette oder die Menschen, die dort verkehrten, schlecht denken. Es gibt schon genug, die einen schlechten Eindruck von uns haben aufgrund des berüchtigten Stroms von Artikeln, die in den letzten Jahren in der Illustrierten Kriminalzeitschrift erschienen sind. Ja, Sie haben sie wahrscheinlich sogar schon selbst gelesen, so oft, wie sie erwähnt worden sind. Deshalb muss ich wohl kaum ins Detail gehen über die Clique degenerierter Männer, die Frauen verabscheuen, und die typischen homosexuellen Frauen und andere unnatürlichen Individuen , die die Verfasser der Artikel in den sogenannten obskuren Wirtshäusern im Larsbjørnsstræde-Viertel getroffen zu haben behaupten. Im Zentral-Klub, im Labyrinth, in der Silhouette und in noch ein paar anderen. Lillemor hat die Artikel immer ausgeschnitten und in meine Taschen gesteckt, wenn ich sie besucht habe. Sie hat das sicher nicht böse gemeint, sondern sich nur Sorgen um mich gemacht. Dazu hatte sie auch allen Grund, doch das lag nicht an der Silhouette. Ganz im Gegenteil, die Silhouette war mein einziges richtiges Zuhause. In dem Sommer, in dem ich für Simon und Frau Hansen gearbeitet habe, bin ich mehrmals die Woche dorthin gegangen, um mit Ambrosius auf die Widrigkeiten des Lebens anzustoßen. Nun ja, und um die noch größeren Widrigkeiten der Nacht zu planen. Ich sah keinen anderen Ausweg. Ambrosius und ich standen kurz davor, im Armenhaus zu landen, da niemand uns wirklich lange anstellen wollte. Und mittlerweile hatten wir den Dreh heraus.
An dem Tag, an dem Frau Hansen mich gefeuert hatte, war ich um Punkt siebzehn Uhr mit Ambrosius in der Silhouette verabredet. Der Regen hüpfte auf dem Kopfsteinpflaster und strömte durch die Rinnsteine wie ein wütender Fluss. Ich spannte in der Haustür meinen größten (und einzigen) Regenschirm auf, atmete tief durch und nahm Kurs auf die Innenstadt. Im Gegensatz zu allen anderen mag ich Regenwetter, wenn ich denn einen Schirm bei mir habe. All die Gedanken, die sich einem aufdrängen, wenn das Wetter trocken ist, verziehen sich. In diesen Situationen bin ich glücklich. Sehr viel glücklicher als all die Armen, die mit tropfnassen Kleidern, die Sachen unter den Mänteln versteckt, durch die Gegend laufen. An diesem Nachmittag war ich darüber hinaus noch aus einem anderen Grund glücklich, denn Frau Hansens Diamantringe klimperten beim Gehen süß in meiner linken Tasche. Sie warteten sozusagen nur darauf, verpfändet zu werden, sodass Ambrosius sich nicht mehr halb zu Tode sorgen musste. Er war zum wer weiß wievielten Male auf die Straße gesetzt worden, in den letzten Wochen hatten wir kaum über etwas anderes gesprochen. Mit Ausnahme meiner privaten Nachforschungen bei Simon und Frau Hansen. Deshalb eilte ich zum Pfandhaus. An den Seen mit den Enten vorbei, die im Regen herumpaddelten, durch das Larsbjørnsstræde-Viertel und den Gammel Strand hinunter, bis ich zur Nybrogade kam, zu dem hellen Palais mit dem Schild »Königliches Pfandhaus« über dem Eingang.
Die Nybrogade hinauf und hinunter wimmelte es immer von Leuten, die auf dem Weg zum Pfandleiher am liebsten nicht gesehen werden wollten, und heute waren es noch mehr als sonst. Vielleicht hofften sie, dass das Wetter die anderen abschrecken würde, oder die Geschäftigkeit lag einfach daran, dass der Monat dem Ende zuging. Jedenfalls erinnerten mich all diese Menschen an mich selbst in meinen schwärzesten Stunden. Die Art, wie sie in die andere Richtung oder steif zu Boden blickten, als wäre ein Erdbeben im Anmarsch. Es waren diese Momente des Wiedererkennens, die meinen Weg hin und wieder hierherführten, auch wenn ich nichts zu verpfänden hatte. Doch heute hatte ich die Ringe, und im Gegensatz zu den meisten anderen stellten die Schätzer mir keine neugierigen Fragen. Der Schätzer heute, ein rothaariger Mann mit nach oben zeigenden Mundwinkeln,
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