Das Turmzimmer
Schulter auf eine Weise zum Brennen, für die sie mehrere Seiten in ihrem Tagebuch brauchte, um sie sich wieder vollständig in Erinnerung zu rufen.
»Als Erstes werden wir alle Möbel aus den Zimmern in der oberen Etage verkaufen, die wir ohnehin nicht brauchen«, sagte Antonia. »Die dürften doch einiges wert sein, meinst du nicht?«
Sie hatte rote Wangen bekommen, die ihr gut standen.
»Dann werden wir eine Mischung aus Liebes- und Spukgeschichten schreiben und sie dem Romanmagazin Revue anbieten. Wir haben sogar schon einige fertig, die nur noch überarbeitet werden müssen.«
Laurits tat ihr Bestes, mit dem Kochlöffel ruhig in der Erbsensuppe zu rühren, doch es fiel ihr schwer. Sie hatte die Geschichten der Mädchen längst heimlich gelesen, und ihr war nicht ganz wohl dabei. »Die Mädchen haben ohnehin Schwierigkeiten, den Unterschied von richtig und falsch zu sehen«, schrieb sie. »Es sollte mich wundern, dass es besser davon wird, Geschichten zu schreiben, in denen Wirklichkeit und Fantasie ineinanderfließen. Andererseits habe ich bemerkt, dass beide seit Langem wieder gesund aussehen. Diese Freude schulde ich ihnen nach meinem Unvermögen. Ich habe Angst, dass mein Gewissen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden erlitten hat.«
»Wir glauben wirklich, dass wir das schaffen können«, hörte sie Lily sagen. Laurits sah sie vor sich, nackt auf der Chaiselongue mit Antonia auf sich.
»Wenn du nur hierbleibst und die Gespenster beschwichtigst, zweifeln wir nicht, dass alles in Ordnung kommt«, fügte Antonia hinzu. Die Suppe in Laurits’ Topf erinnerte jetzt an grüne Wellen.
»In dem Fall«, sagte Laurits und atmete tief durch, »könnt ihr damit rechnen, dass ich zusammen mit euch hierbleibe.«
Die Schwester mit dem goldenen Löffel
Die Jahre, die folgten, wurden in vieler Hinsicht die glücklichsten in Laurits’ Leben. Das schrieb sie oft, während sie andauerten, und noch öfter, als sie unwiederbringlich vorbei waren. Agnes hat die wesentlichen Geschehnisse ja bereits erwähnt: Antonia und Lily meinten es ernst damit, Liebes- und Spukgeschichten zu schreiben und als Fortsetzungsromane in dem Romanmagazin Revue unter dem Pseudonym Antonia Lily zu veröffentlichen. Im Laufe von sechs Jahren wuchs ihr Leserkreis stetig mit den veröffentlichten Fortsetzungsromanen Die Heimgesuchten , Das letzte Geheimnis , Die Spiegelverkehrten und Die lebenden Toten . Das Ganze erreichte seinen Höhepunkt, als 1904 Lady Nellas geschlossene Augen als Fortsetzungsroman herauskam, und ein Jahr später als Roman. Das Buch erschien im Verlag meines Vaters Simon, unter Antonia von Liljenholms Namen und mit einer Fotografie von Antonia auf der ersten Seite, statt der schönen Karen, deren Foto die Fortsetzungsromane geschmückt hatte. Und ja, Sie haben bestimmt schon erraten, dass es sich um dieselbe Karen handelt, der Agnes viele Jahre später im Vodroffsvej begegnet ist. Es fällt mir jedoch schwer, sie in Agnes’ Beschreibung der bösen Karen Hansen wiederzuerkennen, was natürlich daran liegen mag, dass Karen und ich in Verbindung mit Simons Tod gute Freundinnen geworden sind und seitdem den Verlag gemeinsam leiten. Ich mag sie sehr, doch das ist eine andere Geschichte als die, die ich gerade erzähle. Die von Antonia und Lily und Laurits. Und bald auch von Simon.
Ich weiß fast nicht, was schlimmer ist: die Geschichte zu kennen oder sie zu erzählen, Agnes würde wohl Letzteres meinen.
»Das ist einfach zu bizarr mit den dreien, Nella!«, sagt sie immer wieder. Dabei ist es ganz offensichtlich, dass sie in Wirklichkeit Laurits’ Verhalten bizarr findet, die es genossen hatte, Antonia und Lily zu belauern, und sich fast als Teil ihres intimen Verhältnisses fühlte. Vielleicht würde es mir genauso gehen, hätte ich Laurits nicht gekannt und gewusst, dass sie immer nach bestem Wissen gehandelt hat. Natürlich besteht kein Zweifel daran, dass sie sich mit ihrem Gespenstergerede und ihrer Schlüssellochguckerei gewisse Freiheiten erlaubt hat, und darüber war sie sich auch immer im Klaren. »Mein Gewissen wird immer schwärzer«, schrieb sie jedes Mal, wenn sie Antonia und Lily belauert hatte. »Ich kann natürlich versuchen mir einzureden, dass ich gute Gründe habe, jeden Abend ein wachsames Auge auf die Mädchen zu haben, doch die habe ich nicht. Ich habe nur einen Grund, und zwar den, dass ich es genieße.«
Doch die Schäferstündchen der Zwillinge waren nicht die einzige Freude in Laurits’ Leben.
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