Das Turmzimmer
vor dem Schreibtisch, ihren gebeugten Rücken über der alten Remington. Doch die Manuskriptseiten, die in ordentlichen Stapeln auf dem Schreibtisch lagen, wie sie das immer taten, wenn Antonia so weit war, sie an den Verlag zu schicken, waren das Einzige, das wie sonst war. Nella schüttelte kräftig den Kopf, doch das änderte nichts daran, dass in dem Bett auf der linken Seite ein Mensch lag. Er sah aus wie eine Frau, und die Frau konnte wohl kaum jemand anderer als Antonia sein, obwohl … Nellas Füße traten näher. Doch, die Frau war Antonia, sie erkannte die schmalen Augenbrauen und die Wangenknochen, die jetzt noch markanter hervortraten. Die Schlüsselbeine ragten aus der Halsgrube wie windschiefe Bügel an einer Stange.
»Mutter? Hörst du mich?«
Die Schlüsselbeine bewegten sich nicht im Mindesten. Auch nicht, als Nella sich an die Bettkante setzte. Von Antonias Gesicht war nicht viel mehr als eine Totenmaske übrig. Die Haut war so bleich, dass die weiße Bettwäsche beige wirkte, und das Haar war kein bisschen ergraut, nicht einmal an den Schläfen. Es lag wie ein leuchtender, schwarzer Kranz um ihr Gesicht.
Dann bin ich also doch zu spät gekommen , dachte Nella. Ihre Hände wollten nach Antonias greifen, hielten jedoch auf halbem Weg inne. Da war es wieder, das leise Heulen, diesmal direkt über ihrem Kopf, und es klang einfach nicht nach Regen und Windstößen. Das betäubende Prickeln in ihren Schläfen breitete sich in die Arme aus, die auf eine nur zu gut bekannte Art gefühllos wurden. Sie zwang sich, tief zu atmen. Langsam einzuatmen und langsam wieder auszuatmen. Doch mitten im Einatmen hielt sie inne. Die Luft hätte streng genommen nicht mit Antonias Parfüm geschwängert sein dürfen. Schon gar nicht so durchdringend, als hätte sie sich innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden einparfümiert. Im selben Moment hob sich Antonias Brustkasten. Nella hatte richtig gesehen. Er hob und senkte sich, und Antonia schlug langsam die Augen auf. Die Augenbrauen zogen sich wie in einem Fieberkrampf zusammen.
»Was in aller Welt tust du hier?«
Antonias Stimme klang anders als sonst. Heiserer und kraftloser, und Nella hatte sich auf einiges vorbereitet, doch nicht darauf, mit einer Toten zu sprechen, die noch lebte. »Ja, also, ich …«, war das Einzige, das sie herausbekam. Antonia hob die Augen zu der gewölbten Decke. Sie hatte so viele Risse, dass man ernsthaft befürchten musste, sie könnte über ihnen einstürzen. Und in diesem Moment konnte Nella nicht einmal sagen, ob sie nicht vielmehr hoffte, dass das geschehen würde.
»Wer hat nach dir geschickt?«, fragte Antonia jetzt. Ein kleines Lächeln glitt über ihre Lippen, als das leise Heulen erneut erklang. Nella antwortete, dass sie es nicht wisse, was der Wahrheit entsprach. Sie hatte ein Telegramm bekommen, das war alles, und da hatte sie gedacht, dass sie besser …
»Ich habe dich nicht um das ganze Gerede gebeten …«
Antonias Zähne schienen zu lang, wenn sie sprach, und ihr Atem roch so vom Tod geprägt, wie sie aussah. Warme, verfaulte Atemzüge. Sie schmeckte genau nach, bevor sie die Worte ausspuckte.
»Ich will dich nicht hier haben.«
»Aber ich habe dir etwas mitgebracht, Mutter. Aus Kopenhagen! Warte, ich muss es gerade aus der Tasche holen, einen Moment.«
Nella hatte am selben Morgen eine Schachtel Luxusschokolade besorgt, obwohl sie streng genommen weder die Zeit noch die Mittel dazu gehabt hätte. Die Beste von Anton Berg, Schokoladenfläschchen mit Likör gefüllt. Während Nellas Kindheit war Schokolade der einzige Luxus gewesen, den Antonia sich zugestanden hatte. Doch als Nella Antonia die Schachtel reichte, verzogen sich ihre Mundwinkel nach unten.
»Das meinst du nicht ernst!«
»Aber Mutter, du hast doch immer …«
Die Schachtel hing zitternd in der Luft. Eine unangebrachte Entschuldigung, eingepackt in farbenfrohes Stanniolpapier, konnte Nella noch denken, bevor sie den Gedanken von sich wies. Wenn sie denn weiter die personifizierte Entschuldigung sein sollte, wollte sie zumindest wissen, was sie getan hatte. Antonia hustete und versuchte die Hand zu heben, musste jedoch aufgeben. Ihre Nägel kratzten wütend über den Bettbezug, und Nella nahm die Schachtel an sich. Die Musiklehrerin in ihr erhob sich. Sie, die hinter Klavierbänken gestanden und die nervösen Hände der Kinder so lange gerichtet hatte, dass sie sich manchmal gefragt hatte, ob sie es in Wirklichkeit nicht im Schlaf tat. Sie fragte
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