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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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fragt sie seinen Rücken.
    »Die Wahrheit. Dass Martha verschwunden ist und wir zwei nicht wissen, wohin.«
    »Und?«
    Er räuspert sich. »Es ist eigenartig, aber sie schien das irgendwie zu verstehen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Na ja, sinngemäß hat sie gesagt, deine Mutter würde schon wissen, was zu tun ist. Sie hat mich nur gebeten, ihr Bescheid zu geben, falls Martha sich bei uns meldet. Wegen der Medikation. Sie sagte etwas von starken Schmerzmitteln.«
    Lina zupft an dem Ärmel ihres Bademantels, als würden dort in dem hellblauen Frottee irgendwelche Antworten auf die vielen Fragen stecken. Das Bild ihrer Mutter taucht vor ihr auf, gestern Abend, in ihrem schwarzen Kleid mit Spitze. Schön hatte sie ausgesehen und stark, und sie hatte viel gelacht, bis Ingrid diesen Satz sagte.
    »Was machen wir nun, Papa?«
    Er dreht sich um. »Wir warten, bis Martha anruft. Sie wird es tun. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber irgendwann wird sie sich rühren. Du bist ihre Tochter, Lina. Sie liebt dich. Sie wird dich nicht einfach so ohne Nachricht lassen. Bis dahin …«
    Sie sieht auf ihre Füße, die in den dicken Wollsocken stecken. Socken, die Martha ihr irgendwann mitgebracht hat. Jetzt fährt sie mit der Fußspitze am Rand des Teppichs entlang. Hin und her. »Ja?«, fragt sie schließlich. »Was tun wir bis dahin?«
    »Wir sind einfach füreinander da.«
    Ihr Nicken kommt zeitverzögert. Lange sagt sie nichts mehr. Steht nur da, ungefähr zwei Meter von ihm entfernt, und sucht nach Haltepunkten in diesem Flur, der ihr so vertraut ist. Lässt ihren Blick die Treppe hinunter- und wieder hinauflaufen, vorbei an den Fotos. Den Fotos aus fünf Jahrzehnten, von denen viele Familienfotos sind.
    Irgendwann fragt sie ihren Vater, ob sie noch einen Kaffee kochen soll. Einen starken Kaffee.
    Sie spürt so was wie Dankbarkeit in seinem Blick. Ein zu großes Wort, findet sie, aber ihr fällt gerade kein besseres ein.

[home]
    6
    S ie ist bis fünf Uhr morgens gefahren. Ohne Pause. Sie ist viel zu schnell gefahren. Als wollte sie in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Kilometer zwischen Vergangenheit und Zukunft legen.
    Fragmente ihrer Geburtstagsfeier werfen sich auf der nahezu leeren Autobahn vor ihren Wagen, und sie schaltet das Fernlicht ein, um die Versatzstücke ihres bisherigen Lebens auszuleuchten.
    Da ist das Haus, ihr Zuhause, das über die Jahre immer ein bisschen schäbiger geworden ist. Sie hat keine Lust verspürt, neue Möbel zu kaufen oder neue Bilder aufzuhängen. Sie ist sitzen geblieben in den Sesseln von früher, die inzwischen durchhängen und kaum noch Halt bieten und deren Farben sich im Lauf der Zeit immer mehr verschlissen haben. Sie hat ihre Dinge erledigt in diesem Zuhause, und manchmal ist ihr Blick an den Fotos im Flur hängengeblieben. Bilder, die ihr Leben auffädeln. Meist hat sie schnell wieder weggesehen, weil sie es nicht mag, wenn sich ihre Gedanken auf Abwege begeben.
    Da ist Lina. Ihre Tochter, die sich langsam löst aus dem Mutter-Kind-Zweisamkeitskokon. So ist das eben, redet Martha sich bereits seit längerem ein. Und trotzdem fällt ihr dieser Abschied auf Raten nicht leicht. Gestern, als Lina von Schottland schwärmte, wusste sie plötzlich: Es wird gar keine langsame Abnabelung mehr geben. Kein vorsichtiges Durchtrennen dieser Nabelschnur, die länger hält als die, die man nach der Geburt mit einem entschiedenen Schnitt in zwei Leben teilt. Martha hat auf den fließenden Übergang gehofft: Irgendwann wäre da ein Mann in Linas Leben, vielleicht sogar ein Kind … Doch das alles ist nun nicht mehr möglich. Sie würde noch nicht mal den Uni-Abschluss ihrer Tochter erleben, geschweige denn Enkel. Diese Krankheit, die jetzt in ihrem Körper die Regieanweisungen gibt, nimmt keine Rücksicht auf Pläne. Erteilt der Zukunft eine rigorose Absage. Widerspruch zwecklos.
    Da ist ihr Vater, der natürlich ihren Geburtstag vergessen hat, weil er in einem Dämmerzustand lebt, in dem die Koordinaten nur noch hier und jetzt heißen. Einem Dämmerzustand, in dem das Wissen, dass er eine Tochter hat, keinen Platz mehr findet. Jede Woche besucht sie ihn im Heim. Seit drei Jahren schon. Im Sommer sitzt sie mit ihm in der Grünanlage hinter dem schmucklosen Neubau auf einer Bank; im Winter sehen sie aus dem Aufenthaltsraum durch große Fenster auf Bäume, die sich vom Laub befreit haben. Dass auf die Scheiben schwarze Vögel aus Papier geklebt sind, hat Martha immer etwas beunruhigt. Schwarze

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