Das unendliche Blau
mehr, das seine Mama braucht«, setzt er nach. »Du bist eine erwachsene Frau.«
»Was soll ich denn tun? Einfach abwarten?«
»Lernen loszulassen. Und versuchen, auf deinen eigenen Füßen zu stehen. Außerdem …« Er kratzt sich am Hinterkopf.
»Ja?«
»Ich bin auch noch da.«
Sie sieht ihm direkt in die Augen. »Fällt mir schwer zu glauben.«
»Ich weiß schon. Ich war nie eine verlässliche Größe. Ich war der Papa, der die Familie im Stich gelassen hat.«
»Oh, mal wieder einer deiner hellsichtigen Momente. Gratuliere! Im Übrigen …«
»Das mit dem Sarkasmus musst du noch üben«, schneidet er ihr das Wort ab.
»Sag mal, was bildest du dir eigentlich ein? Du tauchst hier nach zig Jahren auf und machst einen auf fürsorglichen Vater und verständnisvollen Ex-Mann. Erwartest du, dass ich dir dankbar um den Hals falle?«
»Du hast mir auch nie eine Chance gegeben.«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe mich zwar von deiner Mutter getrennt, aber nicht von dir.«
»Und warum bist du dann nicht öfter da gewesen? Hast dich um mich gekümmert?«
»Ich hab’s versucht.«
»Ach, sag bloß …«
»Ich hab versucht, an den Tagen, die mir Martha zugebilligt hat, diesen beschissenen Besuchstagen, wenigstens etwas von der alten Nähe wiederherzustellen. Aber du hast mir nur die kalte Schulter gezeigt. Du warst es doch, die nichts mehr von mir wissen wollte.«
Lina lässt die Serviette sinken. Ihr Blick wandert zum Fenster, vor dem eine hellblaue Jalousie hängt, die Staub zwischen den Lamellen angesetzt hat. Dahinter sieht man die Tanne, die im Vorgarten steht. Ein dichter, dunkelgrüner Nadelbaum, der kein Licht durchlässt.
Und plötzlich sind sie wieder da. Die Nachmittage, an denen das achtjährige Mädchen vor der Tür des Vaters stand, mit einem kleinen gelb geblümten Rucksack auf dem Rücken. Martha hatte Hausschuhe, Zopfgummis und Socken zum Wechseln, eine Bürste und ihre Lieblingspuppe hineingepackt. Lina hielt jedes Mal inne, dort vor dieser Tür, den Zeigefinger bereits auf dem Klingelknopf, das Läuten hinauszögernd. Die Mutter kam nie mit hinauf, sondern brachte sie immer nur bis vor das Haus, in das der Vater gezogen war. Ein modernes Haus, eines, in dem mehrere Parteien wohnten, Singles und junge Paare. Ein Haus in Hamburg, eine gute Autostunde entfernt von der Kleinstadt, in der Martha und Lina nun allein lebten.
Während die Mutter an diesen Nachmittagen irgendwo Kaffee trinken oder spazieren oder Bekannte besuchen ging, saß die Tochter bei Hans auf dem Sofa und rutschte von einer Pobacke auf die andere. Der Vater schlug vor, ins Kino zu gehen oder Eis zu essen oder die Enten im Park zu füttern. Er hatte altes Brot gesammelt in einem Stoffbeutel, weil er wusste, dass Lina es liebte, den Tieren die Krumen hinzuwerfen. Manchmal willigte sie ein, aber meist blieb sie einfach sitzen, zog ihre Hausschuhe an, holte die Puppe aus dem Rucksack und begann zu spielen.
Hans kochte ihr Kakao, in den er extra viel Schokolade und Zucker rührte, so viel, wie sie bei Martha nie bekam. Lina weiß noch, dass sich etwas in ihr darüber freute, aber sie zeigte es ihrem Vater nicht. Sie fragte ihn auch nicht, warum er nicht wieder in sein altes Leben zurückkam, obwohl sie das gern getan hätte. Aber Martha hatte ihr gesagt, Papa habe sie beide nicht mehr so lieb wie früher, und da gebe es eine andere Frau, mit der er nun zusammen sei. Lina hatte die Frau nur dreimal gesehen, und sie traute sich nicht, ihrer Mutter zu verraten, dass diese Karin nett war. Das Buch, das sie von Karin geschenkt bekommen hatte, las sie heimlich, und als ihre Mutter es entdeckte und fragte, woher sie es habe, wurde sie rot und erzählte, eine Freundin habe es ihr geliehen. Irgendwann hörte sie Martha am Telefon mit Hans reden, laut reden. Danach sah sie Karin nie wieder. Insgeheim bedauerte sie das. Aber das sagte sie ihrem Vater nicht.
An den Besuchsnachmittagen redete sie mehr mit ihrer Puppe als mit ihm, und wenn es drei Stunden später klingelte, sprang sie auf, warf ihre Sachen in den Rucksack und rannte zur Tür. Hans brachte sie oft hinunter vors Haus, wo Martha mit laufendem Motor im Auto auf sie wartete. Er strich seiner Tochter über den Kopf, und manchmal versuchte er auch, sie in den Arm zu nehmen. Dann machte sie sich ganz steif, weil sie ihrer Mutter nicht weh tun wollte. Dass sie ihrem Vater weh tat, begriff sie damals nicht.
Jetzt lässt Lina ihre Gedanken in den dichten Nadeln der alten dunklen
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