Das unendliche Blau
hielt sie das Telefon noch in der Hand, bevor sie es in die Ladestation zurückstellte. Es antwortete ihr mit einem melodischen hellen Ton, bevor es begann, seine Batterie wieder aufzufüllen. Im selben Moment fragte Lina sich, wer eigentlich dafür zuständig war,
ihre
Speicher zu füllen. Sie fühlte sich auf einmal unendlich leer. Und unendlich allein.
Und nun steht sie hier, sieht vom Schreibtisch ihrer Mutter auf ihren schlafenden Vater.
»Papa?« Ihre Stimme ist jetzt lauter.
Hans zuckt zusammen. Seine Hand tastet nach etwas, das er nicht finden kann. Dann schlägt er die Augen auf und dreht sich auf den Rücken. »Lina?«
»Ja. Wer sonst?«
»Wie spät ist es?«
»Es geht auf elf Uhr.«
»Oh, mein Gott.« Er setzt sich auf. »Ist was passiert?«
»Nein. Ich dachte nur, es ist Zeit zum Aufstehen.«
»Bist du schon lange wach?«
Sie nickt. Sie steht noch immer an der Tür. Als wollte sie sich den Rückzug offen halten.
»Komm mal her.« Er klopft auf das Bett.
Sie tritt langsam näher, setzt sich ans Fußende.
»Du guckst so komisch. Was ist los?«
»Schon okay.« Sie sieht nach unten. Dorthin, wo ihre Mutter irgendwann mal einen alten Teppich gelegt hat. Kein besonders schönes Teil. Nur zweckmäßig. Wie das meiste in Marthas Leben zweckmäßig gewesen ist.
»Du hast vorhin telefoniert, oder?«
»Ich dachte, du hast geschlafen.«
Er lächelt. »Na ja, ich bin gleich wieder weggenickt.«
Sie legt ihre Hände in den Schoß, verschränkt die Finger ineinander. »Ich hab versucht, Mama anzurufen.«
»Und?«
»Da war ein Mann am Telefon.«
»Was für ein Mann?«
»Michele heißt er. Er sagte, er ist ein Freund von Mama.«
Hans runzelt die Stirn. »Hat deine Mutter mal irgendwas von diesem Michele erzählt?«
»Nein, Papa. Ich kenne den Typen nicht.«
»Wie war er denn?«
»Freundlich. Nett. Mama würde sich gerade die Haare waschen, hat er gemeint. Ach, Scheiße, ich weiß nicht …«
»Das ist doch nichts Ungewöhnliches. Ich meine, dass deine Mutter bei einem Mann ist.«
»Versuch jetzt nicht, das Ganze runterzuspielen. Du weißt selbst, wie Mama ist. Sie hat niemals auch nur irgendjemanden angeguckt.«
»Na ja, Zeit wird’s.«
»Sag mal, spinnst du?« Sie will aufstehen, doch er hält sie zurück.
»Lina, jetzt sei mal vernünftig.«
»Vernünftig? Bist du noch bei Trost? Ich bin wahrscheinlich die Einzige, die hier vernünftig ist.«
Er lässt sie los.
Sie bleibt sitzen. »Meine Mutter haut einfach ab. Wir erfahren, dass sie bald sterben wird. Sie macht mit irgendwelchen Männern rum und lässt uns hier im Ungewissen. Und du sagst, das sei alles völlig normal.«
»Das sag ich gar nicht. Ich beginne nur langsam zu verstehen.«
»Na, wenigstens einer, der hier begreift, was los ist.«
»Verdammt noch mal, hör mit diesem kindischen Getue auf.«
Lina zuckt zusammen. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie versucht, dagegen anzublinzeln. Vergeblich. Irgendwann schluchzt sie laut auf und beginnt zu weinen.
Hans sieht sich um. Greift nach einer Serviette, die er neben ein Glas Wasser gelegt hat, und hält sie der Tochter hin.
Sie zögert kurz, doch dann nimmt sie die Serviette und schneuzt kräftig hinein.
»Lina, bitte.« Er räuspert sich. »Entschuldige, ich hab’s nicht so gemeint. Ich finde nur, du darfst nicht zu streng sein mit deiner Mutter.«
Sie zieht die Nase hoch. »Aber sie war’s doch, die immer streng gewesen ist. Sie ist immer streng gewesen mit mir. Und auch mit dir übrigens. Hast du das schon vergessen? Und jetzt macht sie sich einfach so aus dem Staub und lässt einen hier sitzen.« Sie wischt sich über ihre Augen.
»Ich glaube, hier geht es nicht um uns. Nicht um dich und nicht um mich. Martha tut etwas, das sie in ihrem Leben bislang nie getan hat.«
»Was willst du damit sagen?«
»Sie denkt an sich. Sie pfeift endlich mal auf die ganze gottverdammte Pflichterfüllung.«
»Das sagst ausgerechnet du. Es ist ihr schließlich nichts anderes übriggeblieben, als ihre Pflicht zu erfüllen. Du hast dich ja schließlich aus dem Staub gemacht damals.« Sie sieht ihn jetzt wütend an.
»Lass diese Geschichte mal außen vor. Ich bin an vielem schuld, aber nicht an allem. Dass Martha so ist, wie sie ist, liegt wirklich nicht an mir.«
»Aber was sie jetzt tut, ist nicht fair.«
»Mensch, Lina. Das hat doch nichts mit Fairness zu tun. Wie’s aussieht, hat sie nicht mehr lang zu leben.« Er schüttelt den Kopf. »Du bist kein kleines Mädchen
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