Das unendliche Blau
es liegt bereits Herbst in der Luft.
Martha steht auf und klopft sich etwas Straßenstaub vom Po. Sie greift nach ihrer Tasche, die sie neben sich auf den Stufen abgestellt hat, und hört, wie die Perlen darin hin und her kullern.
Francescas Rat klingt in ihr nach. »Genieß jeden Bissen.« Heute Nachmittag hat sie diesen Satz zu ihr gesagt, und Martha hat noch lang, nachdem die Freundin das Klassenzimmer verlassen hat, dagesessen und auf die Herzen in ihrem Schulheft gesehen.
Während sie nun langsam über den großen Platz geht und Kurs nimmt auf die dunklen Arkaden bei der alten Buchhandlung Nannini, wirft sie einen beiläufigen Blick auf die dort aufgestellten Postkartenständer. Und auf die Antiquariatsfundstücke, die gleich daneben in den Regalen liegen, über die zur Nacht Holzjalousien gezogen werden wie bei altmodischen Rollschreibtischen. Um diese Stunde ist noch viel Betrieb hier. Menschen mit Einkaufstüten, andere bereits mit Abendtäschchen. Familien, Paare, Einzelgänger.
Martha steuert auf die weiter hinten liegende Bar zu, in der von Gas betriebene Heizpilze Wärme verströmen. Darunter sitzen die Leute auf Plexiglasstühlen und Plüschsofas und nehmen ihren ersten Aperitif.
Robert winkt, als er Martha sieht. Er winkt und lacht. Er lacht eigentlich immer, wenn er sie sieht.
Sie sind in den letzten Wochen so etwas wie Freunde geworden, sie und Robert. Oft verabreden sie sich nach der Schule auf einen Kaffee, essen eine Kleinigkeit oder sehen sich gemeinsam die Sehenswürdigkeiten der Stadt an; »Abhaken« nennen sie das fast verschwörerisch und amüsieren sich darüber, wenn sie ihre Reiseführer aus der Tasche holen und sich gegenseitig die Orte zeigen, die sie markiert haben.
Die Kirche Santo Stefano, die eigentlich aus mehreren Kirchen besteht und einen Innenhof hat, den Martha als ihren Lieblingsplatz zum Denken bezeichnet. Hier könne sie sich sortieren, hatte sie Robert erklärt, als sie das erste Mal gemeinsam dort waren. Sie liebe es, ganz allein in dem Kreuzgang auf der Mauer zu sitzen, angelehnt an eine der Säulen, und die Gedanken, die kommen wollten, in den wahlweise blauen oder grauen Himmel aufsteigen zu lassen.
Das Archäologische Museum mit seiner ägyptischen Sammlung, wo sie beide vor Vitrinen mit fein ziseliertem Schmuck standen, Schmuck, der fast modern wirkte und doch vor mehreren tausend Jahren am Handgelenk oder Hals einer Frau gelegen hatte. »Wir sind nur ein Hüsteln im langen Atem der Geschichte, ein Sandkorn in der Wüste der Zeit«, sinnierte Robert, und Martha zog ihn auf, weil er so abgedroschene Metaphern hervorholte. »Mein König der Binsenweisheiten«, sagte sie zu ihm und hakte sich bei ihm unter. Und er drückte ihren Arm fest, eine fast väterliche Geste, die Martha an ihren Vater denken ließ. Ihren Vater, der nicht mal mehr wusste, dass er eine Tochter hatte.
Das Rathaus mit seinem rot-goldenen Prunkzimmer, in dem die Trauungen stattfinden. Robert reichte Martha seine Hand, und sie setzten sich auf die beiden barocken Sessel vor dem üppigst verzierten Tisch und philosophierten über die Ehe. Das taten sie übrigens gern und oft, aber dieser Raum lieferte ihnen eine Bühne, wie geschaffen für solche Betrachtungen. Danach besuchten sie ein Stockwerk höher die Ausstellung mit den Werken von Giorgio Morandi, der in Bologna sein Atelier gehabt hatte. Martha nannte die Bilder Küchen-Aquarelle, weil auf vielen in ewig gleicher Anordnung Milchkannen und anderes Gebrauchsgeschirr zu sehen waren. »Ich hätte gern eins davon für zu Hause«, sagte sie leichthin, bevor ihr einfiel, dass sie kein Zuhause mehr hatte, nur ein geliehenes, hier in dieser Stadt. Und genauso erschien ihr plötzlich ihr ganzes Leben. Wie eine Leihgabe, die sie bald zurück ins Pfandhaus würde tragen müssen. Sie wurde schweigsam, und Robert sah sie fragend an. Doch sie schüttelte seinen Blick ab und versuchte, der Situation mit einer flapsigen Bemerkung die Schwere zu nehmen. Er sagte nichts mehr, überging diese kleine Begebenheit leichtfüßig, und sie begriff in dem Moment, dass Verständnis keine Worte braucht.
Es gibt auch Tage, an denen Roberts Frau Catherine sie begleitet. Eine alte grauhaarige Dame mit mädchenhaftem Kurzhaarschnitt, die sich gern lächelnd zurücknimmt, wenn ihr Mann doziert. »Wir haben einundfünfzig gute Jahre hinter uns«, erklärt Robert gern, nicht ohne auszuholen und diese Jahre Revue passieren zu lassen und sich dabei seiner geliebten Metaphern
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