Das unendliche Blau
magst du recht haben. Es gibt bei mir nur ein Problem.«
»Was für ein Problem?«
»Ich weiß die Antwort schon.« Sie fasst den Stiel ihres Glases und dreht ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie hat kaum etwas getrunken, während Robert für sich bereits nachbestellt.
Er sieht sie an und sagt nichts.
Sie blickt auf ihr Glas und dann in die Gesichter der Menschen, die um sie herumsitzen und reden und lachen. Sie denkt an die Perlen in ihrer Tasche und an das Erlebnis vorhin auf der Piazza. Und an das, was sie gedacht hat, als sie dort stand und die Hände aufhielt. Dass manchmal etwas reißen muss, damit man erfährt, worauf es ankommt.
»Mein Leben ist gerissen«, sagt sie und sieht den alten Mann über ihr Glas hinweg an. »Und merkwürdigerweise weiß ich erst jetzt, wie viel es mir bedeutet.«
»Nun ja«, nimmt er ihren Faden auf, »etwas, das reißt, lässt sich wieder zusammenfügen. Es bleibt vielleicht ein Knoten, aber so ist das eben. Wir werden unversehrt hineingeworfen in diese Welt und meinen anfangs noch, nichts könne uns passieren. Doch irgendwann kommen die Brüche und Risse. Wir erleben Trennungen und Liebeskummer und Verletzungen, und wir flicken wieder zusammen, was kaputtgegangen ist. Einige werden darüber vielleicht misstrauisch und ängstlich, andere gelassen und weise. Ich würde sagen, das ist Typsache.«
»Ach, Robert.« Sie greift über den Tisch nach seiner Hand und lässt ihre dort einen Moment liegen. »Ich hab wohl immer zur ersten Kategorie gehört, fürchte ich.«
»Es gibt Leute, die haben schon bei ihrer Geburt eine Scheißangst im Bauch. Aber mal ehrlich, Martha, du wirkst nicht wie eine von denen.«
Sie deutet ein Lächeln an, das sie sofort wieder verschwinden lässt.
»Ich kenn dich ja noch nicht lange«, fährt er fort, »aber allein in diesen fünf Wochen hat sich dein Strahlen potenziert. Du bist so glücklich mit Michele und er mit dir. Das spürt jemand wie ich, der tagein, tagaus mit Paaren zu tun hat.«
»Das Glück ist eine Momentaufnahme«, greift sie auf, was sie heute Nachmittag zu Francesca gesagt hat.
»Klar, das Unglück auch«, erwidert Robert. »Wir beschäftigen uns nur mehr mit Letzterem. Und dabei kriegt unsere Sicht auf die Dinge leicht mal einen Silberblick. Das Unglück sehen wir doppelt. Beim Glück halten wir uns die Augen zu. Höchst selten, dass jemand sagt: Hey, das ist schön, hier zu sitzen und Wein zu trinken. Alles passt, mir geht’s gut, uns geht’s gut. Es fehlt an nichts. Das ist auch die Tragik in vielen Beziehungen. Man kann nicht auskosten, was ist. Da ist immer dieser verdammte Optimierungseifer, der gern mal Händchen hält mit Verlustängsten und dem Drama die Tür scheunentorweit öffnet, damit es hereinspaziert und alles besetzt. Und diese Dramen bleiben Dauergast und fressen einem den Kühlschrank leer, bis nichts mehr übrig bleibt außer Hunger. Hunger nach Glück. Das Fatale an der Sache ist nur, dass die Vorräte weg sind.«
»Manchmal spürt man selbst den Hunger nicht mehr«, ergänzt Martha, während sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger zwirbelt.
»Du meinst, weil man vergessen hat, wie das Glück schmeckt?«
»Ja. Mein Erinnerungsvermögen war an diesem Punkt ziemlich verkümmert. Ich hab mich von trockenem Brot ernährt, um in deinem hübschen Bild zu bleiben.«
»Aber du hast wieder Appetit bekommen auf anderes, scheint mir.«
Sie nickt. »Ich liebe Michele. Und er liebt mich.«
»Glückwunsch, Martha. Ihr seid zwei kluge, wunderbare Menschen mit einer gehörigen Portion Vergangenheit. Jeder eine Ehe, jeder ein Kind, jeder ein paar Schrammen. Aber wenn ihr’s nur halbwegs clever anstellt, habt ihr beste Chancen, diesmal ein paar Fehler weniger zu machen. Es liegt an euch, was ihr in euren Vorratsschrank packt.«
Sie seufzt. »Es ist nur … ach, shit.«
»Hey, my dear. Was ist los?«
»Das wird nix werden mit großer Vorratshaltung, Robert. In unserem Fall ist es wohl besser, wir essen alles ganz schnell auf.«
»Musst du bald wieder zurück nach Deutschland? Das macht doch nichts, es gibt viele Paare, die über große Entfernungen hinweg …«
»Aber nicht über die Entfernung, um die es hier geht«, schneidet sie ihm das Wort ab. »Ich werde bald sterben, Robert.«
Und dann redet sie. Sie redet, weil sie plötzlich spürt, dass sie diesem Mann alles sagen kann. Er fragt nicht, er kommentiert nicht, er unterbricht nicht. Er, der sonst so gern redet, lässt nun sie reden. Er hört nur zu.
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