Das unendliche Blau
es finde, Kaffee mit Strohhalm zu trinken.
Lina lächelte. Es war mehr das Flackern eines Lächelns. Es kostete sie noch immer Überwindung, ihrem Vater recht zu geben.
Sie waren müde. Eine bleierne Müdigkeit, die in jeden Knochen kroch. Sie hatten schlecht geschlafen in dem Liegewagen, obwohl sie ein Abteil für sich hatten. Stattdessen redeten sie. Sie redeten über Bücher, Filme und Fotografie. Doch sie vermieden es, über sich zu reden, als wollten sie ausklammern, was da alles an die Oberfläche drängte auf dieser Zugfahrt von Hamburg nach Bologna. Dazwischen schwiegen sie minutenlang; jeder hing seinen Gedanken nach, und dieses Geräusch, das Räder auf Schienen machen, füllte ihre Schweigeminuten.
Sie hatten sich in den letzten Wochen häufiger gesehen als all die Jahre zuvor. Sie hatten in dem alten Haus geschlafen und sich vor dem Zubettgehen noch durch die Fernsehprogramme gezappt. Dabei hatten sie festgestellt, dass sie einen ähnlichen Geschmack hatten. Sie mochten amerikanische Serien, und irgendwann hatte Hans eine ganze Tüte DVDs mitgebracht. Lina hatte Erdnüsse und Chips gekauft und Wein für sich und Marillenschnaps für ihn. Manchmal tranken sie auch gemeinsam Gin Tonic. Und dann guckten sie sich von Cliffhanger zu Cliffhanger. Hans hielt die Fernbedienung in der Hand, und sie nickten sich nur zu, wenn sie weiterschauen wollten, und Lina füllte die Gläser nach. Es gab Abende, die sie auf diese Weise in die Nacht hinein verlängerten. Manchmal sagte Hans »Scheiße«, wenn’s irgendjemanden im Film erwischt hatte. Manchmal lachte Lina, wenn etwas skurril war. Ihr Vater lachte dann mit, als könnte er sich so mit der Tochter verbünden. Nach einigen Wochen begann sich Lina auf diese Abende mit ihm zu freuen, aber das sagte sie ihm natürlich nicht. Sie genoss es nur, still neben ihm zu sitzen.
Sie hatten auch ein wenig aufgeräumt in der Zeit, der Zeit ohne Martha. Erst packten sie die Kisten und schickten sie nach Bologna, dann begannen sie, sich im Keller und in der Garage Schränke und Regale vorzunehmen. Als sie das alte Schlauchboot vom Haken holten, fragte sich Hans, ob es wohl noch seetüchtig sei. Er fragte mehr sich selbst, aber seine Tochter gab ihm die Antwort. Sie schlug vor, es im nächsten Sommer doch mal auszuprobieren. An diesem Tag lachte er mehr als sonst.
Einmal weinte er auch. Lina sah ihn auf der Kellertreppe sitzen, mit einem Strauß getrockneter Rosen, die Martha in Seidenpapier eingeschlagen hatte. Seine Tränen fielen auf das Papier und hinterließen dort kurzfristig Spuren, die schnell wieder trockneten. Sie wusste, dass es der Brautstrauß ihrer Mutter war, den ihr Vater da in den Händen hielt. Sie sagte nichts, drehte sich nur leise um und ging auf Zehenspitzen in die Küche. Er hatte nicht mal mitbekommen, dass sie ihn vom Treppenabsatz aus beobachtet hatte.
Manchmal telefonierten sie mit Martha, Lina öfter als Hans. Es ging bei diesen Gesprächen meist um Dinge, die erledigt werden mussten: Versicherungen bezahlen, Zeitungs-Abo abbestellen, mit dem Steuerberater reden. Lina vermied es, die Mutter nach ihrem Gesundheitszustand zu fragen. Martha klang zu fröhlich, zu ausgelassen, zu zuversichtlich. Sie erzählte von den Fortschritten, die sie in der Schule machte, von neuen Freunden, die sie gefunden hatte, von Eissorten, die es nur in Italien gab und die einfach himmlisch schmeckten. Hin und wieder fiel auch der Name dieses Mannes, Michele, und er hinterließ Fragezeichen. Fragezeichen, die Lina stehenließ. Sie hielt ihre Neugier zurück. Im Oktober berichtete ihre Mutter von Strandspaziergängen bei Vollmond und von einem Fellini-Film, den sie in einem alten Kino in Rimini gesehen hatte. Sie wirkte wie ausgewechselt, als sei das Leben eine Wundertüte, aus der sie sich nach Herzenslust bediente. Da schienen Fragen nach dem Krebs, der ihrem Körper nach dem Leben trachtete, deplaziert. Also schwieg Lina, flüchtete sich in Dinge, die leichter zu besprechen waren. Dinge wie Rechnungen und Überweisungen und Termine. Irgendwann Anfang November kündigte sie ihre Reise nach Bologna an. Sie würde mit Papa kommen, sagte sie.
Die Mutter antwortete nicht.
Nächste Woche wären sie da, Freitagnachmittag, fuhr Lina fort. Sie würden den Zug nehmen. Sie wartete in die Pause hinein, die entstand, wartete, während es in der Leitung leise rauschte.
»Gut«, erwiderte Martha schließlich und räusperte sich. »Ich freue mich.«
»Tust du das wirklich?«
Das
Weitere Kostenlose Bücher