Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
Kelche eine Tarotkarte ist. In einer Sache waren meine Mutter und ich uns ausnahmsweise einig: Wir beide hielten Leben und sterben lassen für den besten Bond-Film. Meiner Mutter gefielen das Tarot und der Voodookram. Ich dagegen mochte die Stelle, wo der Bösewicht eine Druckluftpatrone schluckt und über dem Haifischbecken explodiert. Aber das war, bevor ich Pazifist wurde.
Wenn Sie den Film gesehen haben, dann wissen Sie vielleicht noch, dass die Königin der Kelche auf dem Kopf stehend (oder besser gesagt in einer »unwürdigen Position«) eine verräterische, hinterhältige und unglaubwürdige Frau repräsentiert. Aber richtig herum, wie sie auf der Ladentür meiner Mutter abgebildet war, hat sie die gegenteilige Bedeutung: eine Frau, die mit Weisheit und Sensibilität gesegnet ist, mit Intuition, Visionen und so weiter. Diese Bedeutung hatte meine Mutter im Sinn, als sie den Namen auswählte.
Im Erdgeschoss gab es vier Räume: den Verkaufsraum, ein Hinterzimmer, ein Lager und eine Toilette. In dem Verkaufsraum boten wir viele verschiedene Bücher über Wicca, Astrologie, Numerologie, Weissagungen, Runen und natürlich auch über Tarot an. Wir hatten auch verschiedene Tarotkarten und unterschiedliches Tarotzubehör auf Lager, ebenso wie Kerzen und Kristalle, Räucherwerk, Öle und Destillate. Meine Mutter mischte die Öle und die Destillate selbst zusammen, aber nicht in einem Kessel. Sie benutzte dazu einen Siebenliterkanister.
Im Hinterzimmer, das genauso klein war wie das Lager, fand das Kartenlegen statt. In diesem Raum war das Licht stets gedämpft. Das einzige Fenster war mit einem Fensterladen abgedunkelt, und die Wände waren in einem Farbton gestrichen, der an getrocknetes Blut erinnerte. Wie ich bereits erwähnte, zog meine Mutter Kerzen der elektrischen Beleuchtung vor, weil es ihr mit den psychischen Vibrationen half. Und es schaffte eine angemessene Atmosphäre. Ohne diese vielen Kerzen und ohne den Tarottisch mit seinem schwarzen Seidenüberwurf wäre der Raum lediglich eine kleine, rot gestrichene Kammer gewesen.
Weil ich auf die Kerzen aufpassen musste, durfte ich an den meisten Sitzungen meiner Mutter teilnehmen, was normalerweise ganz und gar nicht erwünscht ist. Tarot erfordert eine Menge Konzentration, darum wird die Anwesenheit einer unbeteiligten Person während des Kartenlegens als unliebsame Ablenkung betrachtet, sowohl für denjenigen, der die Karten legt, als auch für den Kunden. Aber was mich betrifft, so schien sich niemand an mir zu stören, vielleicht, weil die meisten Menschen ein Kind nicht als vollwertige Person betrachten. Ich saß still in der hintersten Ecke, wo man mich leicht übersehen konnte, und wenn ich meinen Pflichten als Kerzenanzünder nachgehen musste, versuchte ich, mich so langsam, so ernsthaft und so leise wie möglich zu bewegen, wie meine Mutter es mir beigebracht hatte. Auf diese Weise würde ich die delikate Atmosphäre des Kartenlegens so wenig wie möglich beeinflussen. Ich glaube sogar, dass ich der Atmosphäre guttat; ich war wie ein fremdländischer, stummer Zwerg, der hin und wieder aus dem Schatten auftauchte, um sich um die flackernden Flammen zu kümmern. Solange ich die Karten nicht berührte, störte meine Anwesenheit den reibungslosen Ablauf der Sitzungen nicht im Mindesten. Die Karten zu berühren, egal wann, wo und unter welchen Umständen, war ABSOLUT VERBOTEN .
Meine Mutter hielt mindestens drei oder vier Sitzungen pro Woche ab, auch vor meinem Unfall. Und danach – oder besser gesagt: nach dem Interview, das sie der Zeitschrift Psychic News gegeben hatte – bekam sie deutlich mehr Anfragen. Eine Weile kamen die Leute sogar von weit her, nur um an einer vierzigminütigen Sitzung meiner Mutter teilzunehmen.
Nur, damit Sie nicht auf falsche Gedanken kommen: Psychic News ist keine Zeitschrift, die einem die Nachrichten der nächsten Woche voraussagt. Sie erscheint einmal im Monat und berichtet über die neusten Entwicklungen in der Welt der Prophezeiungen. Meine Mutter ließ sich ein paar Monate, nachdem ich aus dem Koma erwacht war, zu einem Interview überreden, lange nachdem das allgemeine öffentliche Interesse an meinem Unfall versiegt war.
Ich muss wohl nicht betonen, dass unter allen merkwürdigen Artikeln, die über das Ereignis geschrieben wurden, derjenige in Psychic News der allermerkwürdigste war. In diesem Artikel enthüllte meine Mutter, dass sie die Katastrophe vorausgesehen hatte. Natürlich erkannte sie diesen Umstand
Weitere Kostenlose Bücher