Das Ungeheuer von Florenz
mußte der Maresciallo sein großes weißes Taschentuch hervorziehen und sich die Augen trocknen.
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Nein, nein, es ist nur meine Überempfindlichkeit. Vom Sonnenlicht tränen mir die Augen.«
Der Maresciallo wollte etwas Zeit gewinnen. Nun, da die Frau tatsächlich in seinem Auto saß, wurde ihm klar, daß er nicht wußte, wie er sein Gespräch beginnen sollte. Es war mehr als wahrscheinlich, daß Simonetti und die anderen diese Frau nie gesehen hatten. Und obwohl Di Maira sich ihm gegenüber offenbart hatte, fühlte sich der Maresciallo weiter unter Beobachtung.
Er runzelte die Stirn, als er den Zündschlüssel drehte und nach einer Lösung für sein Problem suchte. Anscheinend spürte seine Begleiterin seine Anspannung.
»Sie sagten, es sei nichts passiert? Und Sie machen mir nichts vor?«
»Nein, Signora, nein. Ich habe nur gerade gedacht… Vielleicht möchten Sie irgendwo einen Kaffee trinken, irgend etwas in der Art…« Er blinkte und fuhr los.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Der Vormittag war sehr lang. Ich hatte vor sechs Monaten eine kleine Operation, wissen Sie. Daß ich geheilt wäre, kann ich nicht behaupten; bei dieser Operation wird ein kleines Stück Knochen hinter der Nase entfernt. Bei manchen Leuten hilft es, bei mir hat es aber nicht geholfen. Darüber mußte ich heute in der Klinik berichten. Ich spüre keinen Unterschied zu früher. Die Leute haben keine Ahnung, was für ein Fluch eine wirklich schlimme Migräne ist. Bei mir läßt die Sehkraft nach, noch ehe die Kopfschmerzen anfangen. Und das geschieht so schnell, daß ich nie den Mut hatte, ein Auto zu fahren. Und natürlich ist es schwierig, die Arbeit zu behalten.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Auf meiner jetzigen Arbeitsstelle ist man sehr verständnisvoll. Ich arbeite in einer Bar ganz in der Nähe meiner Wohnung, und wenn es losgeht, kann ich schnell nach Hause gehen und mir eine Spritze geben. Aber diese Spritzen – eine allein kostet schon mehr als hunderttausend Lire. Das ist kein Witz.«
Sie zog ihre Schaffell-Fausthandschuhe aus und legte sie auf die Handtasche, die sie auf dem Schoß hatte. Der Maresciallo schaute von der Seite auf ihre dünnen, durchscheinenden Hände mit den kurzen, gerade geschnittenen Nägeln.
»Ist Ihr Mann Ihnen bei alledem eine Stütze?«
»Ich habe nicht geheiratet.«
»Ich verstehe. Wenn man allein zurechtkommen muß, ist es sicher noch schwieriger.«
»Nach dem, was meiner Schwester passiert war, faßte ich den Entschluß, mich selbst niemals einer solchen Gefahr auszusetzen. Und es war nicht nur ihr Tod, der mich dazu bewegen hat, es war die Art und Weise, wie er sie behandelte, als sie noch lebte. Sie war erst neunzehn, als es passierte. Wußten Sie das?«
»Ja, sie war sehr jung. Eine tragische Sache.«
»Neunzehn. Damals war sie für mich natürlich erwachsen, eine Frau. Ich war ja erst zwölf. Aber wenn ich heute an sie denke und jedesmal, wenn ich die achtzehn-, neunzehnjährigen Mädchen sehe, die in die Bar kommen… Im Grunde war sie noch ein Kind.«
»Das stimmt.«
Sie verstummte für eine Weile, während sie in Richtung Stadtzentrum rollten und hinter einer Autoschlange die Fahrt verlangsamen mußten. Ihr Mantel roch nach Mottenkugeln, und wenn sie sich zum Maresciallo drehte und sprach, entströmte ihrem Atem jedesmal ein feiner Hauch von Minze. Ihm fiel auf, daß sie nicht »Ich habe doch den anderen schon alles erzählt, was ich weiß« gesagt hatte, wie es die meisten Menschen unter solchen Umständen taten. Er bog in die Allee ein, die zum Piazzale Michelangelo führte. In dieser Gegend waren zu jeder Jahreszeit Touristen unterwegs. Sie konnten sich zwischen sie mischen und in einer Bar einen Kaffee trinken.
»Oh!«
Was war los mit ihr? Er parkte das Auto neben der Balustrade und schaute seine Beifahrerin an.
»Sind Sie noch nie hier gewesen?«
»Nein! Es ist ja wunderschön. Der grüne Fluß und die roten Ziegel und der Marmor… Sie können es sich nicht vorstellen! Wenn ich aus der Migräneklinik komme, muß ich mich immer beeilen, meinen Zug zu erreichen, deshalb habe ich nie Gelegenheit gehabt –«
»Wollen wir nun einen Kaffee trinken?«
»Ach, ich würde lieber hier sitzen bleiben, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin ja den ganzen Tag in einer Bar.«
»Natürlich, ja, das hatte ich nicht bedacht.«
»Es ist so schön hier und so warm an der Sonne. Schauen Sie, da ist der Dom – und wie heißt der große Platz
Weitere Kostenlose Bücher