Das Ungeheuer von Florenz
sie sich etwas angezogen…‹ ›Mein Mann sagt, er muß… wissen Sie… alles über ihren Bauch. Ich hatte nicht den Mut, da reinzugehen. Wie Sie das über sich gebracht haben…‹ ›So ein Schwein, und auch noch vor dem Kind…‹ ›Ob es stimmt, daß sie fortgehen wollte, was glauben Sie?‹ ›Nein, nein, das glaub ich nicht. Keine meiner Töchter verläßt ihren Ehemann.‹ ›Aber er hat sie doch dauernd verprügelt.‹ ›Wie man sich bettet, so liegt man.‹ ›Oh, da urteilen Sie aber sehr hart.‹ ›Ja, aber so ist die Welt… Über unsere Familie ist schon so viel Schande gebracht worden, da können wir nicht noch mehr gebrauchen. Was geschehen ist, ist geschehen.‹ ›Ich muß immer wieder daran denken… Sie war so hungrig, daß sie Tränen in den Augen hatte. Als sie das zweite Mal geklopft hat, hab ich ihr eine große Schüssel Bohnen und Nudelsuppe gegeben, die ich für heute vorgekocht hatte.‹ Da bin ich weggelaufen, weil es mir das Herz brach. Ich weiß auch nicht warum, aber ich mußte immer wieder an die Suppe denken. Wahrscheinlich hat meine Schwester meistens Hunger gehabt, und mich hat sie immer weggeschickt, wenn sie nichts zu essen im Haus hatte, damit ich es nicht merke.«
Ida Melis kramte in ihrer Handtasche, doch der Maresciallo, der seiner Augen wegen immer reichlich mit Papiertaschentüchern ausgerüstet war, kam ihr zuvor.
»Vielen Dank. Bitte entschuldigen Sie.«
Sie starrte mit blicklosen Augen auf die strahlende Landschaft vor der Windschutzscheibe, drehte sich zur Seite und schneuzte sich.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie noch einmal. »Es sind die dümmsten Kleinigkeiten, die in mir alles wieder wachrufen. Die Bohnen und die Nudelsuppe, die Laufmasche in ihren Strümpfen. Ich hätte an dem Abend nicht weggehen dürfen. Wenn ich bei ihr geblieben wäre, hätte er es nicht tun können, und am Tag darauf wäre sie vor ihm sicher gewesen.«
»Sie waren doch noch ein Kind.«
»Das spielt doch keine Rolle. Er hätte sie jedenfalls nicht vor meinen Augen ermorden können. Amelio konnte nichts sagen, ich schon. Das werde ich mir, solange ich lebe, nicht verzeihen.«
War dies die Ursache der Kopfschmerzen, von denen sie dem Maresciallo erzählt hatte? Waren sie eine Form der Selbstbestrafung? Man hörte ja vieles in dieser Richtung, aber der Maresciallo kannte sich auf dem Gebiet nicht aus und schlug daher einen anderen Kurs ein.
»Dann wundert es mich nicht, daß Sie Silvano hassen.«
»Ich verabscheue ihn. Ich würde ihn mit bloßen Händen erwürgen, wenn ich die Kraft dazu hätte.«
»Er hat das Leben Ihrer Schwester zerstört, und es klingt so, als ließen Sie zu, daß er Ihr Leben ebenfalls zerstört.«
»Er hat noch mehr Leben als nur meines und das Margheritas zerstört. Was ist mit dem Pärchen, das er erschossen hat? Und dem Kind, das in dem Auto saß? Was für ein Leben kann er nach diesen Taten führen? Was ist mit seinem eigenen Kind? Als der Junge von ihm fortlief und zu mir in den Norden kam, dachte ich, das sei ein Zeichen. Ich bin nicht gläubig, Maresciallo, ich gebe zu, daß ich dafür zu verbittert bin. Trotzdem dachte ich, das wäre die Gelegenheit, Abbitte dafür zu leisten, daß ich meine arme Schwester an jenem Abend allein ließ, ihm ein Zuhause zu bieten, denn meine Mutter wollte ihn ja auch nicht haben. Der arme Junge hing anscheinend an Flavio, der war um die sechzehn, aber keinen Deut besser als sein Bruder. Und als Silvano wieder heiratete, holte Flavio den Jungen nach Florenz. Sie können sich vorstellen, wie sie gelebt haben… was er mir erzählt hat.«
»Ich nehme an, es war schwierig, eine Stiefmutter und so weiter.«
»Stiefmutter? Er war ganz froh, wieder so etwas wie eine Mutter zu haben, aber es hat nicht gehalten. Silvano hat sie aus dem Haus getrieben mit seiner Brutalität, und der Junge lief weg und kam zu mir. Zuerst hat er versucht, bei Flavio Vargius unterzuschlüpfen, aber dort entkam er seinem Vater nicht. Meine Mutter sagte, ich würde den Tag bereuen, und so ist es auch gekommen.«
»Der Junge ist nicht bei Ihnen geblieben?«
»Doch, geblieben schon. Zumindest wohnte er offiziell bei mir, bis er einundzwanzig war. Einen großen Teil dieser Zeit aber saß er im Gefängnis. Mir war schon vorher klar gewesen, daß da etwas nicht stimmen konnte, und dann kam er mit einem schicken roten Auto nach Hause, als er arbeitslos war. So etwas hatte es in unserer Familie nie gegeben, damit konnte ich mich nicht abfinden. Als
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