Das Ungeheuer von Florenz
sie sowieso bald genug, noch ehe die Sache vorbei ist.«
»Das stimmt«, sagte der Maresciallo.
»Es ist wie bei einer Lotterie. Jeder, den man trifft, stellt einem die gleiche Frage: ›Bist du für schuldig oder für nicht schuldig?‹ Es gibt Leute, die führen da Buch drüber. Wußten Sie das?«
»Nein.«
»Ein Toast.«
»Danke.«
Noferini biß hungrig hinein und achtete wie immer nicht auf den Barmann. Für einen jungen Polizisten wie ihn bedeutete Ermitteln, an einem Computer zu sitzen oder an einem Apparat wie dem, an dem er heute morgen herumgefummelt hatte, und nicht, dem Gerede eines Mannes an einer Theke zuzuhören. Der Maresciallo hörte zu.
»Was sie anscheinend nicht in den Kopf kriegen, diese Journalisten, ist, daß niemand von den Hiesigen ihn kennt. Wie ist er, wer sind seine Freunde, kommt er in Ihr Lokal, hat er Streit mit seinen Nachbarn, trinkt er, ist er gemein, ist er ein Perverser, ist er ein Spanner…? Sie sollten mal die Antworten hören, die diese Journalisten kriegen. Von Leuten, die noch keine zwei Worte mit dem Mann gewechselt haben, die nicht einmal wußten, daß er existiert, bis sie sein Foto in der Zeitung sahen. Gestern abend war ein Kerl in den Acht-Uhr-Nachrichten, der hat, ob Sie's glauben oder nicht, geschlagene zehn Minuten dahergeschwätzt, er sei einer von der und der Sorte, er terrorisiere das ganze Dorf. So ein blöder Trottel. Manche Leute sagen alles, um ins Fernsehen zu kommen, darauf läuft es doch hinaus, oder um ihren Namen in der Zeitung zu lesen.«
»Aber«, der Maresciallo tupfte sich den Mund mit einer Papierserviette ab, »ein paar Leute müssen ihn doch kennen, oder sehe ich das falsch?«
»Ja, ganz falsch. Verzeihen Sie, aber als er verhaftet wurde, weil er mit dem armen Mädchen rumgemacht hatte, da war er gerade erst hierhergezogen. Die ganze Zeit über, die er theoretisch hier gewohnt hat, war er ja im Gefängnis. Die Leute kennen ihn so gut, wie ich ihn kenne. Guten Morgen, guten Tag, auf Wiedersehen.«
»Er war also mal hier?«
»Ein- oder zweimal, wie alle anderen auch.«
»Und Sie hatten keine Angst vor ihm?«
»Angst vor ihm? Wenn einer behauptet, Angst vor ihm zu haben, will er doch bloß auf sich aufmerksam machen. Ich habe nichts gegen den Mann, und mir ist es völlig egal, ob er schuldig ist oder nicht. Wenn er schuldig ist, wandert er wieder ins Kittchen, aber wenn sie ihn einstecken und er nicht schuldig ist, ist mir das auch recht. Nach dem, was er seiner Tochter angetan hat, kann er für den Rest seines Lebens da drin bleiben. Ein sehr guter Platz für ihn. Es ist schlimm genug, was er ihr angetan hat. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man das alles vor Gericht sagen muß? Sie wollte nicht als Zeugin aussagen, wissen Sie, sie hat es denen gesagt. Das wollte sie nie.«
»Ganz sicher hätte sie ihn nicht angeklagt, wenn…«
»So jedenfalls hat sie es meiner Frau erzählt. Sie war in Tränen aufgelöst. Sie sagte: ›Ich wollte das nicht unterschreiben, aber sie haben es von mir verlangt. Ich hab nur unterschrieben, weil ich nicht ins Gefängnis kommen wollte.‹ Aber, wie ich schon sagte, sie ist nicht ganz richtig im Kopf.«
»Hm.«
»Ist ja auch kein Wunder, bei einem solchen Vater. Was die durchgemacht hat. Man sollte sie wirklich wegbringen.«
»Gehen wir?« fragte Noferini, den das Geschwätz des Barmannes ungeduldig machte.
»Einen Augenblick noch. Ich will nur noch schnell etwas kaufen. Steigen Sie schon ins Auto ein, ich komme gleich nach.«
Der Maresciallo hatte eine Glasvitrine entdeckt, in der kleine Strümpfe lagen, gefüllt mit Geschenken zum giorno della Befana: Schokolade und Trillerpfeifen und Plastikautos für die braven, »Kohlezucker«, Kandiszucker in Form von Kohlestückchen, für die ungezogenen Kinder. Aber würden sie rechtzeitig ankommen? Und würde so etwas nicht auf dem Postweg zerdrückt werden? Ob Teresa ihnen schon welche gekauft hatte? Spielte das eine Rolle, wo er weit weg von seinen Kindern war? Waren sie vielleicht überhaupt schon zu alt für so etwas? Falls ja, könnten sie gekränkt sein – und plötzlich fiel ihm ein, daß sie am 6. Januar ja wieder zu Hause waren, denn an dem Tag fing die Schule wieder an.
»Haben Sie sich für etwas entschieden?« fragte der Barmann und beugte sich nach vorn.
»Ich lasse es…«, murmelte der Maresciallo. »Danke.«
Viertel vor zwölf. Es hatte keinen Zweck. Er lag schon seit Stunden wach und versuchte einzuschlafen oder stellte sich
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