Das Ungeheuer von Florenz
Polizeirevier auftauchte, lag der letzte Mord zwei Jahre zurück.
Soviel Mitgefühl er für die Jahre ihres hilflosen Leidens und für ihre derzeitige beklagenswerte Verfassung auch empfand, wenn er sie ansah, wußte er zweifelsfrei, daß ihr Schweigen eine Lüge war.
Noferini schlief. Der Maresciallo saß vor der Abhöranlage, von der er nichts verstand und die er nie anrührte, und schaute aus dem kleinen, nicht durch Gardinen geschützten Fenster auf den weißen Umriß des Hauses, in dem der Verdächtige wohnte. Zu einer bestimmten Stunde, wenn das Haus im Dunkeln lag und die zankenden Stimmen verstummt waren, drehte Noferini die Lautstärke voll auf, so daß noch das leiseste Wort und die geringste Bewegung übertragen wurden. Dann wechselten sie sich ab, damit jeder ein bißchen schlafen konnte. Noferini hatte sich gerade auf der harten Liege ausgestreckt, sich mit einer Armeedecke zugedeckt, auf seine Schlafseite gedreht und binnen Sekunden leise zu schnarchen begonnen. Der Maresciallo beneidete ihn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal anständig geschlafen hatte. Obwohl er seine verlorenen Stunden morgens nicht wettmachen konnte, war er nun auch nachts wach, ob er hier Dienst tat oder nicht. Er würde aber Noferini nach den wenigen Stunden, um die dieser ihn gebeten hatte, nicht wecken. Er sollte ungestört die ganze Nacht durchschlafen. Der Durchsuchungsbeschluß für das Haus des Verdächtigen war inzwischen unterzeichnet worden, und die Hausdurchsuchung war für den Morgen des folgenden Tages angesetzt. Den Durchsuchungsbeschluß zu bekommen war nicht leicht gewesen, denn der Richter hatte den ersten anonymen Brief und den zweiten, erst kürzlich eingegangenen mit großer Skepsis angeschaut, wo es hieß, wenn man Haus und Garten mit einem Metalldetektor absuchte, würde man etwas Interessantes zutage fördern. Anonyme Briefe waren unzulässige Beweismittel und konnten vor Gericht nicht verwendet werden, Simonetti jedoch hatte um das Recht gekämpft, diesem nachgehen zu dürfen, und der Richter, der nicht gern einen Menschen schützen wollte, den die Zeitungen inzwischen als Monster bezeichneten, ob er nun der Gesuchte war oder nicht, hatte den Beschluß unterschrieben. Die Durchsuchung begann am frühen Morgen. Der Maresciallo und Noferini waren erst ab Mittag wieder zur Überwachung eingeteilt, und sowenig der Maresciallo jetzt schon wußte, was er morgen früh tun würde, so genau wußte er andererseits, daß Noferini gleich als erstes wie ein Eichhörnchen hinüberlaufen würde, ob er nun geschlafen hatte oder nicht.
Mit einem Schnarchlaut und einem Rascheln des Federbetts drehte sich der Verdächtige in seinem Bett. Der Maresciallo blickte sich nach dem dunklen Umriß um, der sich vor der weißgetünchten Wand abzeichnete, doch sein junger Kollege schlief fest. Sah man ihm seinen übertriebenen Eifer nach, der mehr seiner Jugend und Unerfahrenheit denn einem berechnenden oder ehrgeizigen Charakter zuzuschreiben war, mußte man den jungen Polizisten eigentlich gern haben.
Ferrini hatte ihm den Spitznamen ›Eichhörnchen‹ verpaßt, nur war nicht ganz klar, ob das eine Anspielung auf die feinen, über einer Stupsnase zusammentreffenden Augenbrauen war oder auf die Emsigkeit, mit der er Informationen zusammentrug, die er dann seinem geliebten Computer verfütterte. Der Junge schlief so unverdrossen, wie er arbeitete.
Der Maresciallo wandte sich wieder dem Fenster zu. Gott sei Dank war es nicht mehr so kalt wie noch vor Tagen. Die Luft war feuchter, und der Himmel war sternenlos. Vermutlich würde es morgen regnen.
Er machte es sich auf seinem Stuhl bequem, und seine Gedanken wanderten zu der verängstigten Tochter. Er hatte noch etwas im Hinterkopf… irgend etwas, das nichts mit dem Schweigen zu tun hatte, welches ein Indiz dafür war, daß sie etwas verheimlichte, auch nichts mit ihrem Vater, wohl aber, da war er sich sicher, etwas mit Sex. Der Maresciallo hielt sich selbst nicht für einen sonderlich hellen Kopf, logisches Denken war nicht seine Sache.
Er wußte etwas, oder er wußte es nicht. Hier jedoch war es anders, und er konnte es nur schwer in Worte fassen, auch für sich selbst – und der Himmel wußte, daß er, was klare Erläuterungen anging, keine großen Ansprüche an sich selbst stellte. Es war ungefähr so, als führte jeder Weg, den man einschlug, zum Ausgangspunkt zurück. Die bisher gefundenen Erklärungen drehten sich alle im Kreis. Wenn man davon ausging,
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