Das Ungeheuer
psychologischen Folgen, die ich verwahrt hatte?« fragte sie.
»Ja, sicher«, antwortete Jean. »Ich hab' sie im Lagerraum abgeheftet.«
»Können Sie sie heraussuchen?« Marsha bemühte sich, ihre Sorge zu verbergen.
»Natürlich!« Jean hielt einen Moment lang inne und fragte dann: »Fehlt Ihnen etwas?«
»Nein, nein«, sagte Marsha und nahm die nächste Patientenakte zur Hand. Während sie noch ihre letzten Notizen überflog, schlich die zwölfjährige Nancy Traverse ins Zimmer und versuchte, in einem der Sessel zu verschwinden. Den Kopf zog sie wie eine Schildkröte zwischen die Schultern.
Marsha ging hinüber in den Therapiebereich und nahm Nancy gegenüber Platz. Sie versuchte sich zu erinnern, wo das Mädchen beim letzten Besuch mit der Schilderung seiner Ausflüge ins Reich der Sexualität aufgehört hatte.
Die Sitzung begann und schleppte sich dahin. Marsha bemühte sich um Konzentration, aber im Hinterkopf blieben ihre Angst um VJ und die Schuldgefühle, weil sie gearbeitet hatte, als er klein gewesen war. Nicht, daß es ihn je gestört hätte, wenn sie fortgegangen war. Aber wie Marsha sehr wohl wußte, konnte schon dies ein psychopathologisches Symptom sein.
Als Hobbs gegangen war, versuchte Victor, sich mit Korrespondenz zu beschäftigen, teils um das Labor zu meiden, teils um sich von der schrecklichen Neuigkeit abzulenken, die Hobbs ihm gebracht hatte. Aber bald kehrten seine Gedanken zu den Umständen des Todes zurück. Hirnödem oder auch akute Hirnschwellung genannt, war die unmittelbare Todesursache gewesen. Aber was konnte das Ödem verursacht haben? Er wünschte, Hobbs hätte ihm mehr Details geben können. Das Fehlen einer spezifischen Diagnose war es, was seine Befürchtungen nährte.
»Verdammt!« schrie Victor und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Abrupt stand er auf und starrte aus dem Fenster. Von seinem Büro aus hatte er einen guten Blick auf den Glockenturm. In ferner Vergangenheit waren die Zeiger bei Viertel nach zwei erstarrt.
»Ich hätte es wissen sollen!« sagte er zu sich und schlug mit der rechten Faust so heftig in die linke Handfläche, daß beide Hände brannten. Der Tod von Hobbs' Sohn erweckte all seine Sorgen um VJ zu neuem Leben - Sorgen, die er doch endlich hatte begraben können. Während Marsha sich um den psychologischen Zustand des Jungen sorgte, hatten Victors Befürchtungen mehr mit seinem körperlichen Wohlergehen zu tun. Als VJs Intelligenzquotient gesunken war und sich dann auf einem immer noch außergewöhnlichen Niveau stabilisiert hatte, war Victor entsetzt gewesen. Er hatte Jahre gebraucht, um seine Angst zu überwinden und sich zu entspannen. Aber der plötzliche Tod des Hobbsschen Jungen weckte diese Angst wieder.
Besonders beunruhigend war, daß die Parallelen zwischen VJ und dem Hobbsschen Jungen bei der Art der Empfängnis nicht endeten. Victor hatte gehört, daß der Junge genau wie VJ so was wie ein Wunderkind gewesen war. Heimlich hatte er seine Entwicklung verfolgt und sich neugierig gefragt, ob es mit seinem IQ ebenso unvermittelt bergab gehen würde wie bei VJ. Aber jetzt wollte er nur noch wissen, unter welchen Umständen es tatsächlich zu dem tragischen Tod des Kindes gekommen war.
Victor ging zu seinem Computerterminal und machte den Bildschirm frei. Dann rief er seine persönliche Datei über Baby Hobbs ab. Dabei wollte er nichts Spezielles suchen; er dachte, wenn er die Daten überflöge, könnte ihm vielleicht eine Erklärung für den Tod des Kindes einfallen. Der Bildschirm blieb über die übliche Zugriffszeit hinaus dunkel. Verwirrt drückte Victor noch einmal auf die Entertaste. Zur Antwort blinkte das Wort SUCHE ... in der unteren rechten Ecke des Bildschirms. Dann teilte der Computer ihm zu seiner Überraschung mit, es gebe keine solche Datei.
Was, zum Teufel...? dachte Victor. Vielleicht hatte er ja einen Eingabefehler gemacht. Er versuchte es noch einmal und tippte sehr sorgfältig BABY - HOBBS . Dann drückte er die Ausführungstaste, und nach einer Pause, in der der Computer alle seine Datenbanken durchsuchte, erhielt er genau die gleiche Antwort zum zweiten Mal: KEINE DATEI GEFUNDEN .
Victor schaltete den Computer ab und überlegte, was aus den Informationen geworden sein könnte. Sicher, er hatte sie seit einer ganzen Weile nicht mehr abgerufen, aber darauf dürfte es kaum ankommen. Er trommelte mit den Fingern vor der Tastatur auf die Tischplatte, dachte einen Moment lang nach und schaltete den
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