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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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annehmen lassen, Unfall oder Herzinfarkt, also höhere Gewalt in ihrer reinen Form; etwas anderes war ihnen bei der Rettung nicht begegnet; keine Leute, die nach langen Leiden im Spital starben, die kamen bei der Rettung nicht vor. Und keine Verbrechensopfer. Wenn Frau Leupold eine Glühbirne wechseln wollte – wo war die dann? Sie hätte mit ihr herunterfallen und zerbrechen müssen. An Glassplitter konnte sich Schott nicht erinnern; er hatte nur den Tod der Frau Leupold festgestellt. Ein Gegenbeweis der Unfallthese war das noch nicht. Es war ja immerhin möglich, dass Frau Leupold noch vor Auswechseln der Birne gestürzt war. Dann hätten in dem Leuchter über dem Tisch noch alle Birnen eingeschraubt sein müssen. Waren sie das? Schott hatte dem Leuchter nur einen flüchtigen Blick zugeworfen, aufgefallen war ihm nichts. Hätte er Licht gemacht, wäre eine kaputte Birne aufgefallen, aber Licht zu machen kam nicht in Frage … blieb die andere Möglichkeit. Jemand hatte Frau Leupold erschlagen. Der ehemalige Rettungsmann Schott hatte ja nur anhand der Symptome die Todesursache (wahrscheinlich richtig) diagnostiziert, aber die Leiche nicht umgedreht. Ein Schlag auf den Hinterkopf wäre also im Einklang mit den Beobachtungen … müsste sie dann aber nicht vornüber aufs Gesicht fallen? Vielleicht hatte sie der Mörder umgedreht … das führte zu nichts. Alles Spekulationen. Allerdings solche, die sich immer mehr verfestigten. Eine Geschichte. Alles Interessante ist eine Geschichte, etwas, das sich erzählen lässt. Einem anderen, der zuhört oder liest. Die andere Deformierung durch den Beruf, durch den Journalismus. Eine Geschichte lässt sich erzählen, also auch schreiben, und hat Aussicht, vom Chefredakteur angenommen und gedruckt zu werden. Und wie ging die Geschichte? Etwa so: Zwischen dem tunichtgutigen Neffen und seiner Großmutter war es schon seit langem zu Spannungen gekommen. Weil er … weil er keiner geregelten Arbeit nachging, sich in Wien einen Lenz machte und die Großmutter dieses Leben bezahlen ließ. Nun hatte sie ihm ein Ultimatum gesetzt, er soll sich endlich einen Job suchen und so weiter – worauf er in Dornbirn auftaucht. Folge: erbitterte Streiterei. Manfredo erkennt, dass die Oma diesmal hart bleibt, Verzweiflung. Manfredo weiß, wo die Oma ihr Geld aufbewahrt, nämlich nicht auf der Bank, sondern, wie für ältere Mitbürger typisch, in irgendeinem supergeheimen Versteck im Haus, dessen einziger Mangel darin besteht, dass es nicht nur jeder dahergelaufene Berufseinbrecher kennt, sondern auch die nichtsnutzige Verwandtschaft. Es kommt, wie es kommen muss: Manfredo wird von der Oma ertappt, Aufregung, Drohung mit der Polizei, Panik bei Manfredo, stumpfer Gegenstand, Kurzschlusshandlung. Gesteigerte Panik: »Was hab ich nur getan?!« Manfredo rennt weg. Beruhigt sich, kehrt zurück, schnappt sich das Geld – nein, das tut er eben nicht: Denn zwischen dem ersten panischen Weglaufen und dem Wiederkommen war der Nachbar Schott im Leupold’schen Anwesen aufgetaucht und hatte das Geld an sich genommen. Das nun wiederum konnte dem verhinderten Künstler Manfredo Gonzales Leupold nicht entgangen sein, denn wegen des verfluchten Geldes, nicht wahr, hatte die ganze Misere ja angefangen! Was also wird er tun? Sich beruhigen, die Lage überdenken. Schluss: Wenn die Oma gefunden wird, alles aus, wenn nicht, vorläufig alles paletti. Also lässt er die Oma verschwinden …
    Als Schott mit seinen Überlegungen so weit gekommen war, hatten sie sich wie gewisse Zementsorten zur Gewissheit verdichtet: So muss es gewesen sein, so ist es gewesen. Und ebenso wenig, wie der überraschte Heimwerker das steinharte Zeug aus dem Anrührkübel wieder herausbekommt, bekam Schott die Grundsatzüberzeugung vom Verlauf dieser Geschichte aus seinem Kopf heraus. Aber Moment: Da war ja noch etwas. Werdas Geld genommen hatte, der hatte vielleicht auch die tote Oma gefunden. Die ermordete Frau Großmutter. Denn, nicht wahr: Für den mörderischen Enkel musste der Dieb von einer Tötung ausgehen, überlegte Schott. Denn dieser Enkel wusste ja, dass er die Oma erschlagen hatte. Mit großer Wahrscheinlichkeit nahm er an, dass jeder andere, der die Leiche fand, von einem Verbrechen ausgehen würde. Das ist, dachte Schott, ein gutes Beispiel für die Abhängigkeit unserer Einschätzung von unserem Vorwissen. Ihm selbst war es ja zuerst genauso gegangen. Durch seine Erfahrung als Sanitäter war jemand, der tot in

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