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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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anders wurde. Er klammerte sich an die Lehne ihres Bürostuhls. »Können Sie kein Blut sehen?«, fragte Dr. Vazquez mit dem leicht herablassenden Unterton des echten Iberers, der jedes Wochenende dampfende Ströme davon im Sand der Arena versickern sieht.
    »Doch, doch, ich bin nur zu schnell aufgestanden«, sagte Schott.
    »Herr Schott steht nicht nur schnell auf, er legt sich auch schnell hin«, sagte Dr. Rhomberg, »wenn es um seinen Kater geht.« Sie lächelte ihn an und strich den weißen Arztkittel glatt. »Dann wollen wir also …«
    Schott wusste nicht recht, was diese Kommentare bedeuten sollten, und hielt den Mund. Die Hand tat weh. Die Ärzte, er und sie, widmeten sich dem Kater, der jeden Widerstand aufgegeben hatte. Er bekam eine Spritze.
    »Er muss hierbleiben«, erklärte Frau Dr. Rhomberg. »Bis morgen mindestens.«
    »Ist es so schlimm?«, fragte Schott. Ehe sie antworten konnte, hastete Dr. Vazquez ins Nebenzimmer und schloss die Tür.
    »Er ist ein wenig … wie soll ich sagen …«
    »Spanier?«
    »Ja, wir arbeiten seit vier Jahren zusammen.«
    »Wie kommt denn ein spanischer Tierarzt …«
    »Die Liebe. Immer dasselbe. Er ist hier verheiratet.«
    »Glücklich?«
    Sie schaute ihn aus großen Augen an. »Tut mir leid«, erklärteer, »berufsbedingte Neugier, das ist wie ein Reflex. Ich bin … war … Journalist … ich weiß schon, dass mich das nichts angeht.«
    Sie wandte sich wieder dem Kater zu. »Ich glaube, ja, um Ihre Frage zu beantworten – ich meine, glücklich verheiratet, der Kollege Vazquez. Und nein, um gleich Ihre nächste Frage zu beantworten.« Sie blickte ihn an.
    »Tatsache?«, staunte Schott. »Er ist nicht für den Stierkampf? Das wäre meine nächste Frage gewesen …« Er grinste. Sie lachte auf und boxte ihn leicht in die Rippen. »Ich bin übrigens auch – gegen den Stierkampf«, setzte er fort. »Ich vermute, Sie auch, Frau Doktor?«
    »Natürlich. Seit vier Jahren … hier, halten Sie ihn fest.« Sami war eingeschlafen. Das kleine Maul stand leicht offen, hinter den spitzen Zähnen schimmerte die rosa Zunge. Frau Dr. Rhomberg kam mit einem Rasierapparat vom Schrank zurück; einen ähnlichen hatte Schott besessen, als er sich noch elektrisch rasierte. Mit wenigen Strichen wurde Samis Bein kahlgeschoren.
    »Sie sagten, Sie waren Journalist?«
    »Bis vor einem Jahr. Restrukturierungsmaßnahmen.« Darüber wollte sie nun einiges wissen. Eigentlich alles, was er von sich gab. Sie hörte nicht nur zu, sie schien seine Worte aufzusaugen. Er merkte es an ihren Zwischenfragen. Das kann sie gar nicht interessieren, dachte er. Wieso hört sie mir auf diese Art zu? Er kam nicht dahinter. Während dieses Zuhörens (so intensiv, als ob sie hinterher einen Bericht über den traurigen beruflichen Werdegang des Redakteurs Schott schreiben müsste); während sie ihm also zuhörte, reinigte sie Samis Wunde, wovon Schott fast nichts mitbekam und Sami gar nichts. Denn der schlief den Schlaf der Betäubten, und Schott konnte sich, wie die meisten Männer, nicht auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren. Es ging schließlich um eine lebendige Schilderungder intriganten Zustände in der größten regionalen Zeitung und seine Rolle darin, was bei diesem Thema angesichts des extremen Mangels an Relevanz für alle Menschen außerhalb der Zeitung eine schwere Aufgabe war. Schott gab sich Mühe; er wollte mit allen Fasern seines Herzens, dass sie ihm zuhörte. Er hatte noch nicht begriffen, dass sie ihm mit derselben fast atemanhaltenden Neugier gelauscht hätte, wenn es um das Sammeln von Mineralien oder die Korrespondenz Grillparzers gegangen wäre.
    Sie hörte ihn gern reden. Aber das wurde ihr erst später klar. Und ihm auch.
    Sami war verarztet und kam in einen Aufwachkäfig auf der Station, das heißt, in einen weiteren Nebenraum der weitläufigen Praxis Rhomberg-Vazquez. Das Reden hörte aber nicht auf, sondern erstreckte sich auf weitere Themen, während Schotts Hand verarztet wurde, und war auch nicht mehr ein-, sondern wechselseitig und breit gefächert über Politik, Kultur und so weiter – so breit gefächert, dass die Sprechstundenhilfe auf die Tür zum Wartezimmer und danach auf die Uhr an der Wand weisen musste, um die Dinge wieder in einen normalen zeitlichen Ablauf zu bringen.
    »Wir haben uns verplaudert«, sagte Frau Dr. Rhomberg, »und reden morgen weiter, einverstanden?« Sie gab ihm die Hand, die rechte dieses Mal, und drückte sie fest und schaute ihm in

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