Das unvollendete Bildnis
mal eingehend über unsere kürzliche Unterhaltung nachgedacht und bin nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gelangt, dass Caroline Crale ihren Mann nicht vergiftet hat. Ich habe es nie glauben wollen, aber das Fehlen jeder anderen Erklärung und ihr eigenes Verhalten verleiteten mich dazu, die Meinung anderer Leute zu teilen und mich ebenfalls dahingehend zu äußern, dass außer ihr niemand anders als Täter infrage käme.
Ich schließe mich jetzt der These des Verteidigers an, dass Amyas Crale Selbstmord verübt hat, obwohl es, wenn man ihn gut kannte, höchst unwahrscheinlich, ja phantastisch anmutet. Ausschlaggebend für mich ist, dass Caroline selbst es glaubte. Sie kannte ja Amyas besser als wir alle, und wenn sie einen Selbstmord für möglich hielt, so muss es Selbstmord gewesen sein, trotz der Skepsis seiner Freunde.
Ich nehme an, dass selbst Amyas Crale so etwas wie ein Gewissen besaß, sich daher Vorwürfe machte, ja verzweifelt war über seine Exzesse, zu denen ihn sein ungestümes Temperament verleitet hatte; das aber waren Dinge, über die nur seine Frau Bescheid wissen konnte.
In jedem Menschen schlummern geheime Regungen, die irgendwann einmal zur Überraschung auch seiner besten Freunde ans Tageslicht kommen. Man entdeckt, dass ein hoch geachteter, scheinbar sittenstrenger Mann ein wüstes Doppelleben führt; ein habgieriger, nur auf Gelderwerb bedachter Mensch entpuppt sich plötzlich als großer Kunstliebhaber; harte, erbarmungslose Menschen vollbringen unvermutet gütige Taten; großmütige, joviale Männer erweisen sich auf einmal als geizig und kalt.
So kann es sein, dass sich in Amyas Crale, der stets seinen Egoismus betonte, insgeheim das Gewissen regte. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber ich glaube jetzt, dass es so gewesen sein muss. Und ich erinnere daran, dass Caroline hartnäckig bei ihrer Behauptung blieb. Das ist für mich ein Beweis!
Nun möchte ich unter dem Gesichtspunkt meiner neuen Überzeugung die Tatsachen erörtern.
Ich glaube, ich beginne am besten mit der Wiedergabe einer Unterredung, die ich einige Wochen vor der Tragödie mit Caroline hatte. Damals war Elsa Greer zum ersten Mal in Alderbury.
Caroline war sich, wie ich Ihnen ja schon sagte, meiner tiefen Zuneigung und Freundschaft gewiss, und so war ich der Mensch, dem sie sich am ehesten anvertraute. Sie hatte damals schon seit einiger Zeit keinen sehr glücklichen Eindruck gemacht, dennoch war ich überrascht, als sie mich eines Tages plötzlich fragte, ob sich meiner Ansicht nach Amyas ernsthaft für das Mädchen, das er mitgebracht hatte, interessiere.
«Es interessiert ihn, sie zu malen», antwortete ich, «du kennst ja Amyas.»
Sie schüttelte den Kopf.
«Nein, er ist verliebt in sie.»
«Vielleicht ein bisschen.»
«Sehr, glaube ich.»
«Ich gebe zu, dass sie sehr hübsch ist, und wir beide wissen, wie empfänglich Amyas für Schönheit ist. Aber du solltest ihn gut genug kennen, um zu wissen, dass er im, Grunde nur an dir hängt. Ab und zu hat er eine Liebelei, aber das dauert ja nie lange. Du bist für ihn die einzige Frau, die wirklich zählt, und obwohl er sich schlecht benimmt, ändert das nichts an seinen Gefühlen für dich.»
«Bisher habe ich das auch immer geglaubt», erwiderte sie.
«Glaube mir, Caroline, es ist auch jetzt noch so.»
«Nein, diesmal habe ich Angst. Dieses Mädchen ist so erschreckend aufrichtig. Sie ist so jung, so intensiv. Ich habe das Gefühl, dass es diesmal ernst ist.»
«Aber gerade die Tatsache, dass sie so jung und, wie du sagst, so aufrichtig ist, wird sie schützen. Im Allgemeinen sind Frauen für Amyas Freiwild, aber bei diesem Mädchen wird es anders sein.»
«Davor habe ich ja eben Angst: dass es anders sein wird. Ich bin jetzt vierunddreißig, Meredith, und wir sind schon zehn Jahre verheiratet. Was das Aussehen anbelangt, kann ich mit diesem jungen Ding nicht konkurrieren.»
«Aber du weißt doch, Caroline», widersprach ich, «du weißt doch, dass Amyas dich wirklich liebt.»
«Weiß man bei Männern je, woran man ist?» Sie lachte traurig. «Ich bin ein primitiver Mensch; am liebsten würde ich mit der Axt auf dieses Mädchen losgehen.»
Ich entgegnete, dass das Mädchen wahrscheinlich gar nicht wisse, was es tue. Sie bewundere Amyas sehr – eine Art Heldenverehrung –, und wahrscheinlich sei ihr überhaupt nicht bewusst, dass sich Amyas in sie verliebt habe.
Caroline erwiderte nur: «Ach, du guter Meredith!», und begann über etwas
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