Das Urteil
die jetzt die Zeugen aufrief.
Die zehnte Nacht der Isolierung verlief ohne Zwischenfälle. Keine herumschleichenden Liebhaber. Keine unerlaubten Ausflüge in Kasinos. Keine spontanen Jogaübungen mit voller Lautstärke. Herrera wurde von niemandem vermißt. Er hatte in Minutenschnelle gepackt und war dann abgefahren. Dem Sheriff hatte er wiederholt erklärt, daß er einem Komplott zum Opfer gefallen war und der Sache auf den Grund gehen würde.
Nach dem Dinner begann im Eßzimmer ein spontanes Schachturnier. Herman hatte ein Braillebrett mit numerierten Feldern, und am Abend zuvor hatte er Jerry elfmal hintereinander geschlagen. Jetzt wurde er herausgefordert; Hermans Frau brachte sein Brett, und die anderen scharten sich darum. In weniger als einer Stunde hatte er Nicholas dreimal besiegt, Jerry weitere dreimal und dreimal Henry Vu, der noch nie Schach gespielt hatte, dreimal Willis, und er war gerade dabei, abermals gegen Jerry zu spielen, diesmal um einen kleinen Einsatz, als Loreen Duke auf der Suche nach einer weiteren Portion Nachtisch hereinkam. Sie hatte das Spiel als Kind mit ihrem Vater gespielt. Als sie Herman gleich im ersten Spiel schlug, tat es niemandem auch nur ein bißchen leid für den Blinden. Sie spielten, bis es Schlafenszeit war.
Phillip Savelle blieb wie gewöhnlich in seinem Zimmer. Er sprach gelegentlich ein paar Worte während der Mahlzeiten im Motel und während der Kaffeepausen im Geschworenenzimmer, aber im übrigen begnügte er sich damit, seine Nase in ein Buch zu stecken und alle anderen zu ignorieren.
Nicholas hatte zweimal versucht, an ihn heranzukommen, aber vergeblich. Er verabscheute Smalltalk und wollte nicht, daß irgend jemand irgend etwas über ihn wußte.
31
N ach zwanzig Jahren als Krabbenfischer schlief Henry Vu selten länger als bis halb fünf. Am Freitag holte er sich schon früh seinen Morgentee, und da der Colonel nicht mehr da war, saß er allein am Tisch und überflog eine Zeitung. Nicholas gesellte sich wenig später zu ihm. Wie so oft, brachte Nicholas die Begrüßung schnell hinter sich und erkundigte sich nach Vus Tochter in Harvard. Sie war die Quelle immensen Stolzes, und Henrys Augen tanzten, als er von ihrem letzten Brief berichtete.
Andere kamen und gingen. Die Unterhaltung wendete sich Vietnam und dem Krieg zu. Nicholas vertraute Henry zum erstenmal an, daß sein Vater 1972 dort gefallen war. Das stimmte zwar nicht, aber Henry war von der Story tief berührt. Dann, als sie allein waren, fragte Nicholas: »Und was halten Sie von diesem Prozeß?«
Henry trank einen großen Schluck Tee mit viel Sahne und leckte sich die Lippen. »Ist es okay, wenn wir darüber reden?«
»Natürlich. Wir sind unter uns. Alle reden darüber, Henry. Das liegt in der Natur einer Jury. Alle außer Herman.«
»Und was denken die anderen?«
»Ich glaube, die meisten haben sich noch nicht festgelegt. Das Wichtigste ist, daß wir zusammenhalten. Diese Jury muß unbedingt ein Urteil fällen, am besten einstimmig, aber wenigstens mit neun gegen drei für die eine oder die andere Seite. Ein Unentschieden wäre eine Katastrophe.«
Henry trank einen weiteren Schluck Tee und dachte darüber nach. Er verstand Englisch wie seine Muttersprache und sprach es auch gut, wenngleich mit einem Akzent, aber wie die meisten Laien, Einheimische und Immigranten gleichermaßen, hatte er kaum eine Ahnung von juristischen Dingen. »Weshalb?« fragte er. Er vertraute Nicholas wie praktisch alle Geschworenen, weil Nicholas Jura studiert hatte und eine unglaubliche Begabung dafür bewies, Fakten und Probleme zu verstehen, die den anderen entgingen.
»Ganz einfach. Dies ist die Mutter aller Tabakprozesse - Gettysburg, Iwo Jima, Armageddon. Hier sind die beiden Seiten zusammengetroffen, um ihre bisher schwerste Artillerie aufzufahren. Es muß einen Sieger geben und einen Verlierer. Klar und eindeutig. Die Frage, ob die Tabakkonzerne für ihre Zigaretten haftbar gemacht werden sollen oder nicht, muß hier und jetzt beantwortet werden. Von uns. Wir sind ausgewählt worden, und es ist unsere Aufgabe, ein Urteil zu fällen.«
»Ich verstehe«, sagte Henry nickend, aber immer noch verwirrt.
»Das Schlimmste, was wir tun können, ist, uns so zu spalten, daß kein Urteil zustande kommt und der Prozeß deshalb für gescheitert erklärt werden muß.«
»Weshalb wäre das so schlimm?«
»Weil wir uns damit vor der Verantwortung drücken und sie der nächsten Jury aufladen würden. Wenn wir zu keinem Urteil
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