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Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Jerry liebte Spitznamen, und für ihn war sie schon jetzt der Pudel - wegen ihres schmalen Gesichts, der auffallend vorstehenden Nase und des dichten und wirren, langsam ergrauenden Haars, das in der Mitte gescheitelt war und ihr in schweren Strähnen auf die Schultern fiel. Sie war mindestens einsachtzig groß, von sehr kantigem Körperbau, und trug eine beständig gerunzelte Stirn zur Schau, die die Leute auf Abstand hielt. Der Pudel wollte in Ruhe gelassen werden.
    »Ich frage mich, wer als nächster drankommt«, sagte Jerry in dem Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
    »Ich nehme an, diese ganzen Ärzte«, sagte der Pudel, zum Fenster hinausschauend.
    Die anderen beiden Frauen rauchten einfach nur, und Jerry gab es auf.
    Die Frau hieß Marlee, zumindest war das der Deckname, den sie sich für diesen Lebensabschnitt zugelegt hatte. Sie war dreißig, hatte kurzes, braunes Haar und braune Augen, war mittelgroß und schlank; sie trug schlichte Kleidung, sorgfältig so ausgewählt, daß sie keine Aufmerksamkeit erregte. Sie sah großartig aus in engen Jeans und kurzen Röcken, sie sah überhaupt in allem oder in gar nichts großartig aus, aber im Augenblick lag ihr daran, von niemandem bemerkt zu werden. Sie war schon bei zwei früheren Gelegenheiten im Gerichtssaal gewesen - einmal zwei Wochen zuvor bei einer anderen Verhandlung, und einmal während der Auswahl der Geschworenen in dem Tabakfall. Sie kannte sich aus. Sie wußte, wo sich das Amtszimmer des Richters befand und wo er seinen Lunch einnahm. Sie kannte die Namen der Anwälte der Klägerseite und der Verteidigung - keine leichte Aufgabe. Sie hatte die Gerichtsakte gelesen. Sie wußte, in welchem Hotel Rankin Fitch während des Prozesses Unterschlupf gefunden hatte.
    Während der Pause passierte sie den Metalldetektor am Eingang und setzte sich in die hinterste Reihe. Zuschauer streckten sich und gähnten, die Anwälte scharten sich zur Beratung um ihre Tische. Sie sah Fitch in einer Ecke stehen; er unterhielt sich mit zwei Männern, von denen sie vermutete, daß es Jury-Berater waren. Er bemerkte sie nicht. Es waren an die hundert Leute im Saal.
    Ein paar Minuten vergingen. Sie behielt die Tür hinter dem Richtertisch im Auge, und als die Protokollantin mit einem Becher Kaffee in den Saal trat, wußte Marlee, daß der Richter auch bald erscheinen würde. Sie holte einen Umschlag aus ihrer Handtasche, wartete eine Sekunde und ging dann ein paar Schritte zu einem der Deputies, die den Eingang bewachten. Sie bedachte ihn mit einem netten Lächeln und sagte: »Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«
    Er war nahe daran, das Lächeln zu erwidern, und bemerkte den Umschlag. »Ich will es versuchen.«
    »Ich muß los. Könnten Sie das hier dem Herrn da drüben in der Ecke geben? Ich möchte ihn nicht stören.«
    Der Deputy blinzelte in die Richtung, in die sie zeigte, quer durch den Saal. »Welchem?«
    »Dem Dicken in der Mitte, mit dem Spitzbart, dunkler Anzug.«
    In diesem Moment erschien der Gerichtsdiener durch die Tür hinter dem Richtertisch und rief: »Die Sitzung wird fortgesetzt!«
    »Wie heißt er?« fragte der Deputy mit gedämpfter Stimme.
    Sie händigte ihm den Umschlag aus und deutete auf den darauf stehenden Namen. »Rankin Fitch. Danke.« Sie gab ihm einen leichten Klaps auf den Arm und verschwand aus dem Gerichtssaal.
    Fitch beugte sich vor und flüsterte einem der Anwälte etwas zu, und als die Geschworenen zurückkehrten, war er auf dem Weg nach draußen. Für einen Tag hatte er genug gesehen. Wenn die Geschworenen ausgewählt waren, verbrachte Fitch in der Regel nur noch wenig Zeit im Gerichtssaal. Er verfügte über andere Möglichkeiten, den Prozeß zu verfolgen.
    Der Deputy hielt ihn an der Tür an und händigte ihm den Umschlag aus. Es war ein kleiner Schock für Fitch, seinen Namen geschrieben zu sehen. Er war ein Unbekannter, ein namenloser Schatten, der sich niemandem vorstellte und unter einem angenommenen Namen lebte. Seine Firma in Washington nannte sich Arlington West Associates, der nichtssagendste Name, den man sich vorstellen konnte. Niemand kannte seinen Namen - ausgenommen natürlich seine Mitarbeiter, seine Mandanten und einige der Anwälte, die er anheuerte. Er funkelte den Deputy an, ohne auch nur ein ›Danke‹ zu murmeln, dann trat er in die Vorhalle hinaus, noch immer ungläubig den Umschlag anstarrend. Die Druckbuchstaben waren offensichtlich von einer weiblichen Hand geschrieben worden. Er öffnete langsam den

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