Das Urteil
die Tischplatte. »Ich muß schon sagen, in all den Jahren, die ich das hier jetzt mache, habe ich nicht viele Fälle gesehen, die derart glasklar lagen. Ich würde ihr gerne mal beim Pokern zuschauen, sehen, ob sie blufft.«
»Vielleicht ist sie eine Vulkanierin?«
»Was soll das heißen?«
Das überraschte Hardy. War es denkbar, daß David Freeman nie »Star Trek« gesehen hatte und nicht wußte, daß Vulkanier nie bluffen? Als er sich in dem Apartment umsah, wurde ihm klar, daß das vermutlich zutraf. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Fernsehapparat. »Nicht weiter wichtig, David. Es ist eine lange Geschichte. Wollen Sie mit der Sache hier weiter machen?« Der Trommelwirbel brach ab. »Das sollten wir wohl besser.«
Von Freemans Wohnung aus ging Hardy zu Fuß einen Häu serblock weit und gönnte sich dann im Stanford Court ein Mittagessen ganz für sich alleine - er wollte eine Stunde Zeit zum Nachdenken haben.
Es gab keine polizeilichen Unterlagen wegen der angeblichen Demolierung von Dr. Witts Auto durch die Eltern von Melissa Roman oder sonstwen. Dr. Witt hatte keine Anzeige erstattet, was Abe Glitsky nicht weiter verwunderte, der er klärte, daß die Leute allmählich kapierten, daß es in San Fran cisco eben keine Verbrechen mehr gab, solange sie ohne Gewaltanwendung abliefen.
Es gab schlimme Dinge, die passierten, klar - wie etwa die Sache mit Larrys Auto -, aber wenn dabei niemand körperlich zu Schaden kam, mischte sich die Polizei in der Regel nicht ein. Man hatte keine Lust, die ganze Truppe ausrücken zu lassen, um einen Übeltäter zu schnappen, der einen CD-Player für fünfhundert Dollars aus einem Auto geklaut hatte - man hatte nicht das Personal dafür -, genausowenig wie sie Nachforschungen anstellten, wenn ein Tannenzapfen vom Baum fiel und einem die Windschutzscheibe kaputtmachte. Praktisch be trachtet konnte sich die Polizei einfach nicht damit befassen. Hardy fand das großartig - Vandalismus als höhere Gewalt.
Er aß wieder einmal Lachs. Vom Grill mit einer dünnen Marinade aus Wasabe. Dazu ein Glas Chardonnay der Kellerei Hafner.
Er machte sich Sorgen wegen Frannie.
Irgendwas war mit ihr los, und sie erzählte ihm nichts davon. Vielleicht war es die Tatsache, daß er weiterhin mit Jennifer zu tun hatte. Sie hätte nicht erwarten sollen, daß der eine Besuch bei Jennifer groß etwas ändern würde. Und offen sichtlich war es ein Schock gewesen, mit dem Gefängnis kon frontiert zu sein.
Er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sie traurig war. Vielleicht brachte er zuviel Zeit damit zu, für David durch die Gegend zu rennen und nach einem denkbaren »anderen Typ« zu suchen. Der Zynismus, der all dem zugrunde lag, ging ihm allmählich an die Nieren. David schien es nicht die Bohne zu kümmern, ob Jennifer schuldig oder unschuldig war, ihn interessierte allein, ob er seine Mandantin freipauken konnte. Das sei sein Beruf, sagte er. War er wirklich so abgebrüht? Steckte etwas Ernsteres hinter dieser sogenannten professionellen Einstellung? Hardy konnte es nicht sagen, durchschaute David wirklich nicht so gut. Und er vermutete, daß David genau das sehr recht war. Bei diesem Fall existierte für Hardy kein klares Schwarz oder Weiß. Nicht, was Jennifer anging, nicht, was seinen Kollegen David anging, nicht, was sonstwas anging, und das machte ihm reichlich zu schaffen.
Jetzt erschien der Kellner und fragte, ob das Essen denn geschmeckt habe. Monsieur habe den Teller nicht angerührt. Falls er lieber etwas anderes bestellen wollte, dann wäre es selbstverständlich ...
Na ja, zumindest heute würde er nicht länger nach »anderen Typen« Ausschau halten, beschloß Hardy. Der springende Punkt vor Gericht war, ob es Beweise gab, daß Jennifer von ihrem Mann geschlagen wurde. Sobald dies nachgewiesen war, konnte man darüber streiten, welche Schuld sie traf. Sofern Jennifer mitspielte.
Jedenfalls konnte Hardy nicht zulassen, daß sein Festhalten an der objektiven Wahrheit, an den Tatsachen, von Freeman erschüttert wurde. Etwas Konkretes geschah, auf ganz bestimmte Art und zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wenn Hardy also irgendeinen Anspruch auf Gerechtigkeit erhob, dann bestand der erste Schritt darin, diese Tatsachen aufzudecken.
Er kannte ja Ken Lightners Behauptungen. Er hatte die Blutergüsse an Jennifers Mutter gesehen. Larry Witts erste Frau Molly hatte ihm versichert, daß Larry sie geschlagen hatte. Sogar Jennifer hatte zugegeben, daß sie und Larry sich ein paarmal
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