Das Urteil
als ob sie sauer auf ihn wäre. Sie biß die Zähne zusammen, die Augen blickten wachsam und nachdenklich drein, waren nach innen gerichtet - als müsse Frannie irgendeinen körperlichen Schmerz aushalten, mit dem sie ihn nicht belasten wollte.
Er hatte Angst, daß der Schmerz das Ergebnis irgendeiner Veränderung war, daß Frannie bewußt geworden war, daß sie keine Lust mehr hatte, Hardy und ihr gemeinsames Leben noch länger zu ertragen. Sie sah ihn plötzlich an, hatte irgendeinen tiefen Abgrund überbrückt. Zeigte ein halbes Lächeln. »Hallo.«
Er merkte, daß er den Atem angehalten, sie beobachtet hatte, buchstäblich Angst gehabt hatte zu atmen. Wenn er nicht atmete, dann würde der Augenblick vielleicht stehenbleiben, und er müßte nicht herausfinden, was der nächste brachte. Er setzte seinen Portwein auf dem Beistelltischchen ab und ließ die angehaltene Luft entweichen. »Also, wie sieht's aus, Frannie?« »Was meinst du denn?«
»Nicht besonders gut, glaube ich. Ich hab seit vier Wochen Magenschmerzen. Seit du aufgehört hast zu lächeln. Ich hab mir gedacht, vielleicht hast du Lust, darüber zu reden.«
Sie wandte sich zurück zu der schönen Aussicht, zeigte ihm ihr Profil. Er sah, wie ihre Kiefermuskeln hervortraten. Er wollte aufstehen, zu ihr hinübergehen, aber irgend etwas -vielleicht das Wissen, daß sie es nie wieder zurückbekommen könnten, falls sie ihn jetzt zurückstieß, nicht zuließ, daß er sie umarmte und festhielt - hielt ihn eisern auf dem Sofa fest.
Die Silben kamen als undeutliches Gemurmel hervor, und er sagte, daß er nicht verstanden habe, was sie gesagt hatte. Es dauerte eine Minute, bis sie erneut ausgesprochen wurden.
Sie drehte sich um und blickte ihn direkt an, sah ihm in die Augen. »Geheimnisse.«
Er verdaute das Wort, und als ihm die nächstliegende Interpretation in den Sinn kam, drehte sich ihm der Magen um. Er merkte, daß ihm schwindlig wurde, als ob er gleich die Besin nung verlieren würde. »Was für Geheimnisse?« Es war das ein zige, was ihm einfiel.
Sie blieb in unveränderter Haltung stehen, blickte ihn mit verschränkten Armen direkt an. »Geheimnisse sind das, was man für sich behält.«
Hardy beugte sich auf dem Sofa vor. Er nahm das Glas Port wein neben sich hoch, trank einen Schluck und setzte das Glas wieder ab. »Na schön«, sagte er.
»Es ist nicht nur das«, sagte sie.
»Ich weiß noch nicht mal, was das ist.«
»Das stimmt. Du weißt es nicht.«
Hardy hob die Hand bis zur Stirn, massierte sich die Schläfen. »Na schön, Fran, aber ich muß es wissen.« Seine Handflächen fanden zueinander. Wie beim Beten. »Ist es ein anderer Mann? Kannst du mir das sagen?«
Er sah, daß sie die Schultern senkte, die Augen schloß. Ihre ganze Körpersprache brachte zum Ausdruck, daß soeben eine Krise überstanden war. Frannie löste die Arme aus der Verschränkung, lockerte sie, ließ sie seitlich am Körper herabhängen. Sie kam zu ihm herüber, kniete sich vor ihm hin.
»Was redest du denn da, ein anderer Mann? Es gibt keinen anderen Mann. Es könnte gar keinen anderen Mann geben.« Sie hatte ihm die Hände aufs Gesicht gelegt, sah ihm tief und suchend in die Augen, zog sein Profil mit den Fingerspitzen nach, legte ihm dann die Arme um den Hals, zog ihn zu sich heran, preßte ihn an sich. Er spürte, wie sein Körper zitterte. Es waren all die Emotionen, die er so krampfhaft zu bremsen, zu kontrollieren versuchte.
Deshalb hatte er sie geheiratet. Weil er ihr genügend vertraute, daß sie ihn so sehen durfte, sehen konnte, wer er wirklich war. Sie war ein Teil von ihm, der Katalysator, der ihn wieder zu einem ganzen Menschen gemacht hatte.
Sie wiegte ihn hin und her, hielt seinen Kopf in den Händen, hielt ihn fest, spürte, wie die Wellen der angestauten Emotionen aus ihm herausschwappten, an die Oberfläche kamen.
Sie hielt ihn so fest, wie sie nur konnte.
Dies hier war ihr Mann, und er brauchte sie. Wenn er das über sich brachte, ihr das anvertraute, was er als sein schwächstes Ich bezeichnen würde, dann mußte sie sich keine Sorgen machen. Sie konnte ihr Innerstes vor ihm ausbreiten - ihre eigenen Zweifel, ihre eigenen Versäumnisse und Unzulänglichkeiten. Er würde sie deswegen nicht verlassen. Er würde nicht fortgehen.
»Ich hatte Angst, du würdest es nicht begreifen.«
»Wahrscheinlich begreif ich's auch nicht, aber ich werd's versuchen.«
»Du erwartest immer, daß im Leben andauernd alles vollkommen sein soll
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